Herzschmerz und Handicaps: Katawa Shoujo

Katawa Shoujo

Wir schreiben das Jahr 2000. Ein japanischer Anime-Künstler namens Raita tut, was Zeichner den lieben langen Tag so tun, und fertigt spaßeshalber eine Anzeige für eine nicht existierende Dating-Simulation an. Schnitt ins Jahr 2007: Die Zeichnung landet – von einem Amerikaner eingefärbt und übersetzt – irgendwo im Abgrund des Internets. Die Affinität zu Kuriosem sorgt bei ein paar 4chan-Besuchern für genug Begeisterung, um eine tatsächliche Umsetzung des groben Konzepts in Angriff zu nehmen.

Das Team von Four Leaf Studios steckt also fünf Jahre Arbeit ins Indie-Projekt, das auf nichts als einer Kritzelei und einer Handvoll Anmerkungen beruht. Und siehe da: Katawa Shoujo wurde wahrhaftig fertiggestellt. Ob ich wohl ein kleines bisschen mehr Aufmerksamkeit schüren kann, wenn ich an dieser Stelle erwähne, dass sein Titel übersetzt “Krüppelmädchen” bedeutet?

Sich Vorurteile gegenüber eines Spiels wie diesem (und dem übergeordneten Visual-Novel-Genre im Allgemeinen) zu bilden, ist kein Kunststück. Anime-Zeichenstil, junge Mädchen in Schuluniformen, Sex-Szenen und die Möglichkeit, das alles mit nur einer Hand zu bedienen, um nebenbei wild, äh, Tee trinken zu können, richtig? Richtig. Als Mensch, der herzlich wenig mit Anime am Hut hat (meine Street-Credibility reicht etwa von Sailor Moon bis zu Cowboy Bebop), gebe ich gerne zu, dass dieses Spiel hier wesentlich mehr zu bieten hat, über seinen Unterhaltungswert als Spiel hinaus nämlich in der Lage ist, zu berühren, Herzen zu brechen und Menschen zu verbessern. Jep.

Hisao ist ein junger Schüler mit einem kleinen Problem. Nachdem er an einem verschneiten Wintertag einen Liebesbrief erhält und sich mit der Absenderin trifft, erleidet er eine Herzattacke und kommt erst im Krankenhaus wieder zu sich. Er verbringt das gesamte Frühjahr nahezu vollkommene isoliert und Bücher lesend in seinem Krankenbett. Die Ärzte stellen eine chronische Herzkrankheit fest, die für seine Eltern Grund genug ist, ihn nach seiner Entlassung auf die Yamaku Academy, eine Schule mit Spezialisierung auf Menschen mit Behinderungen, zu schicken.

Das eigentliche Spiel setzt genau an Hisaos Rückkehr ins “echte Leben” an. In langen Dialogen mit viel Lesestoff werden die ständig erreichbaren Krankenpfleger, einige Lehrer sowie seine neuen Klassenkameraden vorgestellt -– viele davon hat das Schicksal wesentlich schlimmer getroffen als Hisao selbst. Die Mitschülerinnen, die er im Laufe der Tage kennenlernt, sind beispielsweise taubstumm, blind, mit Narben übersät und arm- oder beinlos.

Eingehend mit den sehr verschiedenen und charakteristisch sehr extrem ausgeprägten Charakteren enthält Katawa Shoujo insgesamt fünf verschiedene Wege, die man nach dem vorgegebenen ersten Akt durch Auswahl der Dialogoptionen gehen kann. Die Auswahl ist dabei selten schwarzweiß und einem deutlich erkennbaren späteren Verlauf zuzuordnen. Stattdessen beschäftigt sie sich subtil und langfristig wirksam mit dem Umgang mit Personen, ihren Eigenschaften und Problemen. Bei den einen wird Zuneigung gewonnen, bei anderen Distanz geschaffen. Wer ohne Bedacht handelt, rennt in ein schlechtes Ende. Ich habe übrigens eines der “besseren” gesehen und hätte doch nie auf derart viel Melancholie vorbereitet sein können.

Durch den Fokus auf Text und den langsamen, aber ausgeprägten Ausbau zwischenmenschlicher Beziehungen weiß Katawa Shoujo, den Spieler die Gebrochenheit, gleichermaßen aber auch die Hoffnungen, Träume und Lebensfreude seiner Charaktere spüren zu lassen.

Die Frequenz der auftauchenden Dialog-Auswahlfelder (und damit der Abzweigungen in der Story) halte ich zugegebenermaßen für zu niedrig. Häufig scheinen sich Antworten nur auf die unmittelbar folgenden Reaktionen auszuwirken oder diese sogar in keiner Weise zu verändern. Das mag im Sinne des größeren Guts in Form des Handlungsverlaufs geschehen, brachte mich stellenweise aber etwas aus dem Konzept -– von den massiven Brüsten der weiblichen Charaktere mal abgesehen.

Katawa Shoujo.

Bei allem Respekt gegenüber unterschiedlichen Geschmäckern erinnert mich die Art und Weise, wie sich brillentragende Zeichentrickpüppchen “sexy” das Gestell auf die Nasenspitze drücken, an verbrauchte Pornodarstellerinnen mit Sekretärinnenrollen. Es ist klar, dass das weibliche Raster keine Wünsche offen lassen soll und auf festgefahrenen Anime-Klischees aufbaut, mich hat die offensichtliche Fanservice-Fassade trotzdem von der sehr guten Geschichte dahinter abgelenkt.

Diese ist in Subtanz und Lektion zwar durchaus ernst zu nehmen, doch gibt es genügend Auflockerung, um das Spiel insgesamt alles andere als trocken erscheinen zu lassen. “Kampfszenen” mit passender Musik und geändertem Zeichenstil bieten Abwechslung zu den Standbildern in Dialogen, ein völlig verrückter Zimmernachbar schwafelt permanent (und teilweise splitternackt) von gefährlichen Verschwörungen der gesamten weiblichen Erdbevölkerung und ein gelungener Soundtrack zwingt irgendwann dazu, sich bei bestimmten Songs tatsächlich ein kleines Bisschen zu freuen und mit zu summen.

[audio:https://www.superlevel.rip/wp-content/uploads/2-05-Painful-History.mp3|titles=Painful History]

Klar, Katawa Shoujo ist in seiner Thematik noch spezieller als die ohnehin schon ausgeflippten Kollegen seines Genres. Beschäftigt man sich aber ein paar Stunden mit der wirklich gut geschriebenen Visual Novel, wird klar, dass die Mädchen trotz ihrer Eingeschränktheit Probleme wie alle anderen haben: Schulstress, Alltag, Zankereien, die Liebe. Die Abnormität der ersten Minuten wird irgendwann zur Selbstverständlichkeit, der man mit Verständnis und nicht länger mit Verwunderung oder gar Ekel begegnet.

Obwohl ich anfangs etwas vom Stil der Grafik abgeschreckt wurde, war ich nach Ende des ersten Aktes gefesselt genug, um die zig weiteren Stunden bis zum Ende zu spielen. Es ist und bleibt umsonst, also traut euch ruhig.

Katawa Shoujo ist kostenlos für PC, Mac und Linux erhältlich. Den Soundtrack zum Spiel gibt’s ebenfalls auf der offiziellen Seite, Einblicke in die Entstehung finden sich im Entwicklerblog.