Ikaruga: Der bipolare Maskenkernbeißer
Es begab sich im Jahr 2001, als iPhones noch nicht existierten und BSE die Welt in Angst und Schrecken versetzte, dass SEGA ein denkwürdiges Shoot’em up für sein Arcade-Automaten-System NAOMI veröffentlichte. Entwickelt vom japanischen Studio Treasure dreht sich Ikaruga um den so mächtigen wie irrwitzig bösen Mann Tenrō Hōrai, der die Kraft der Götter entdeckt, nur um damit die Welt zu unterwerfen. Mit seinem mächtigen Kampfflugzeug Ikaruga Hōrai will der tapfere Shinra ihn stoppen – koste es, was es wolle. Die meisten Spieler dürften von dieser Geschichte allerdings herzlich wenig mitbekommen haben – stattdessen waren sie darum bemüht, den Unmengen an Geschossen und Explosionen auszuweichen, die den vertikalen Bildschirm bedeckten wie Gewitterregen eine Autobahn. Jetzt, 13 Jahre nachdem Ikaruga das erste Mal das Licht der Welt erblickte, wurde das Spiel für den PC neu aufgelegt.
Ikaruga wäre eigentlich ein recht normales Shoot’em up, wäre da nicht die Möglichkeit, mit dem namensgebenden Schiff die Polarität zu wechseln. Per Knopfdruck lädt sich der Schild entweder rot oder blau auf. Während feindliche Geschosse der jeweils anderen Polarität das Schiff zerstören, fügt Feuer der gleichen Färbung Energie hinzu. So lädt sich nach und nach eine Spezialwaffe auf, die im Idealfall an einer besonders kniffligen Stelle entladen werden sollte. Die Polung hat aber auch eine Auswirkung auf die eigenen Waffen: Wer Gegner mit der jeweils anderen Polung beschießt, verdoppelt den Schaden. Es ist daher absolut unerlässlich, ständig zwischen den beiden Polaritäten hin- und herzuwechseln.
Es ist eine Herausforderung in Ikaruga, die Auswirkung der eigenen Polarität im Kopf zu behalten und sie an der richtigen Stelle zu verändern. Eine viel größere Herausforderung ist es, währenddessen auch noch dem nicht enden wollenden Strom an Gegnern, Geschossen und Hindernissen auszuweichen. Noch besser natürlich: diese Geschosse zu benutzen, um die Superwaffe aufzuladen. Während ich in Ikaruga verzweifelt ums bloße Überleben kämpfe, spielen Experten längst auf eine hohe Punktzahl zu. Sie zerstören dazu mehrere Gegner mit gleicher Polarität hintereinander und potenzieren so ihren Highscore.
Der Spielausschnitt auf dem Bildschirm ist, ganz wie beim Arcade-Automaten, vertikal ausgerichtet, rechts und links befinden sich nur ein paar Anzeigen und schmucklose Balken. Wer einen schwenkbaren Monitor hat, kann sich so einen kleinen Vorteil verschaffen, allerdings fallen besagte Balken schon nach kurzer Zeit auch auf horizontal aufgestellten Monitoren nicht mehr besonders auf. Stattdessen: Tunnelblick. Ich kann Ikaruga nicht lang am Stück spielen, die Anspannung ist einfach zu groß, das Chaos zu unüberschaubar. In meinen Spielpausen überlege ich mir, was Ikaruga eigentlich heißt. Eine kurze Recherche verrät mir, dass es sich dabei um einen Singvogel handelt, zu deutsch Maskenkernbeißer. Sein Gesang ist sanft, leise, wie ein Flüstern. Ganz anders kommt mir das Verhalten meines Fluggeräts im Spiel vor, nachdem ich zum zehnten Mal zurückkehre um es wie im Wahn noch einmal zu versuchen: Es knallt, rattert, scheppert, während im Hintergrund ein animierender und martialischer Soundtrack auf mich einhämmert.
Fairerweise lässt sich in der aktuellen Windows-Portierung des Spiels die Anzahl der Continues frei einstellen. Zwar wird dann kein Highscore aufgezeichnet, dafür können aber auch weniger begabte Spieler wie ich das komplette Spiel erleben, inklusive der riesigen Endbosse, von denen jeder eine eigene Strategie erfordert. Noch mehr Spaß macht diese Hölle aus einschlagenden Geschossen und Explosionen natürlich mit einem zweiten Spieler im lokalen Multiplayer. Treffen sich dann noch zwei Highscore-vernarrte Shoot’em up-Könner, dürfte die Ikaruga-Party wohl niemals enden. Der Maskenkernbeißer ist übrigens ein äußerst friedfertiges Tier. Im Winter bilden sich kleine Grüppchen und die Tiere unterstützen sich gegenseitig bei der Nahrungssuche nach Samen, Beeren und Würmern. Ikaruga schießt den Vogel ab.