Eine rätselhafte Stadt offenbart eine vielschichtige Dystopie.
“Eine ungewöhnliche Erfahrung” verspricht die Selbstbeschreibung von The Old City: Leviathan. “Ein Experiment, das sich ausschließlich auf die Story konzentriert” und dass alles andere zweitrangig sei. Es sind recht große Worte, mit denen Entwickler PostMod Softworks doch nur etwas beschreibt, was spätestens seit Dear Esther keine Seltenheit mehr ist: Ein Spiel, das weniger auf ausgefeiltes Gameplay, als eine atmosphärische Welt und Geschichte setzt – wahlweise verächtlich oder ironisch auch “Walking Simulator” genannt.
The Old City beginnt in einem kleinen, gemauerten Raum. Ein paar Kabel und Schalter an der einen Wand, eine Schreibmaschine und einige damit geschriebene Tagebuchseiten auf der anderen. Ein Erzähler spricht zu mir, als würde ich diese Welt kennen, doch auch nach dem Lesen der Seiten wird mir nicht klarer, wo ich mich befinde. Der Raum sieht aus, als hätte hier jemand eine Weile gelebt. Vielleicht war ich es? Ich verlasse den Raum und folge dem Gang, scheine mich in einer Art Kraftwerk zu befinden. Grüne Versorgungsrohre verteilen Trinkwasser. Es ist ein verlassener Ort, also folge ich den Rohren auf meiner Suche nach Antworten.
Anders als bei The Vanishing of Ethan Carter oder Gone Home erhalte ich keine direkte Aufforderung, meine Erkundung zu beginnen. Es gibt kein Rätsel um verschwundene Personen, das mich in die Geschichte stößt. Trotzdem schafft The Old City es von Anfang an, mein Interesse zu wecken. Der eingangs erwähnte Raum sieht eher wie die Abstellkammer eines Hausmeisters aus, gleichzeitig weisen die ersten Nachrichten über Miniaturen auf eine Welt hin, die nicht ausschließlich rational ist.
Besonders die anfängliche Atmosphäre erinnerte mich dabei sehr an Riven, das bereits 1997 den Maßstab für die Erkundung rätselhafter Welten setzte. The Old City bedient sich bei vielem, das auch schon damals funktionierte. Die Umgebung wirkt gleichermaßen vertraut wie fremd und steckt vor allem voller Details – immer wiederkehrende Symbole und Zeichnungen und vereinzelte Nachrichten und Bücher, denen immer ein wenig der nötige Kontext fehlt, um sie eindeutig einordnen zu können. Was haben griechische Fabelwesen mit dieser industrialisierten Umgebung zu tun und warum tragen so viele Figuren biblische Namen wie Abraham und Leviathan? Diese Fragen erschaffen ein Rätsel, das das Spiel selbst so nicht formuliert. Ich begebe mich auf die Suche nach Antworten, aber nicht weil es ein mit einem roten Pfeil markiertes Missionsziel ist, sondern weil die vagen Andeutungen meine Neugier geweckt haben.
Aus den zahlreichen Fragmenten entsteht langsam das Bild einer Welt, die an Orwells 1984 erinnert: Die Menschheit hat Religion als Ursache für Krieg und Hass hinter sich gelassen, nur um in neue künstlich geschaffene Fraktionen und Gruppierungen zu zersplittern. The Old City spielt am Ende dieses Konfliktes und je näher ich der namensgebenden “alten Stadt” komme, desto deutlicher werden die Folgen des Krieges. Verzweiflung und Angst belasten die Überlebenden des Krieges, während die toten Soldaten als stilles Mahnmal noch in den Straßen liegen.
Besonders die vielen unterirdischen Gänge sind oft nur gerade ausreichend beleuchtet, damit der Weg erkennbar ist. Zwischen schummerigem Kerzenlicht und grellen Baustrahlern zeichnen sich scharfe Schatten ab. Die Geräuschkulisse trägt ihr weiteres zur unbehaglichen Stimmung bei. Musik setzt nur selten ein und selbst dann sehr dezent. Im Verlauf offenbart sie eine beachtliche Bandbreite: Von einen beunruhigenden Brummen über leicht verzerrte elektronischen Klänge bis zu epischen Chören nimmt sie Spielende mit auf die Reise durch die immer surrealer werdenden Orte.
Mit der anfänglichen Banalität des verlassenen Industriegebäudes wird schnell gebrochen. Immer verzweigter werden die Wege, immer desorientierender die vielen Türen, in die sie münden. Wo anfangs nur ein einziger gerader Gang meine Richtung vorgibt, finde ich mich schnell an verzweigten Kreuzungen wieder. Es ist als würden die Wege verworrener werden, je mehr ich mich der alten Stadt nähere. So habe ich nie das Gefühl, dass ich einer roten Linie der Story folge, sondern eher auf ganz natürliche Art einen Weg durch das Spiel finde. Verlaufen kann ich mich aber dennoch nie – wenn ich eine Sackgasse erreiche, wirft mich das Spiel zurück in ein bereits früh entdecktes Kinderzimmer, das zwischen Spielzeug und Babyfotos die Pforte in eine mystische Traumwelt außerhalb dieser Realität zu sein scheint.
Auch wenn immer unklar bleibt, ob ich einen Traum durchwandere, oder ob ich in einer realen Welt bin, hätten ein paar Möglichkeiten zur Interaktion gut getan, um das Gefühl einer physische Präsenz der Spielfigur zu erzeugen. So schwebe ich eher losgelöst durch die Welt und berühre sie nur, wenn ich eine Tür öffne. Es ist eines der Details, durch die mich The Old City letztendlich nicht ganz so direkt schafft mich emotional zu berühren, wie es andere narrative Spiele das schafften.
Emotionalität ist weniger der Fokus der Geschichte, als ihre vielen philosophischen Untertöne. Der Sprecher schafft es zwar einige Male, bei mir durch seine subtile Betonung eine Gänsehaut hervorzurufen, aber sein Text wirkt oft bedeutungsschwerer, als er es letztendlich ist. Und zuletzt gibt es noch regelrechte Textbrocken freizuspielen, die eine weitere Perspektive eröffnen sollen – deren klein gedruckten Buchstaben ich letztendlich aber einfach nicht gelesen habe.
Was die Geschichte an Emotionalität vermissen lässt, macht sie durch ein spannendes Szenario wieder wett. Die Dystopie, die sich entfaltet, geht weit über die Grausamkeit eines Krieges hinaus. Selbst die verstörendsten Szenen speisen ihre Kraft nicht direkt aus Kriegsbildern. Das Wiederholen von religiösen und mystischen Symbolen erweckt zunächst den Eindruck einer schlichten Religionskritik. Die Beweg- und Abgründe der Charaktere entwickeln sich aber weitaus nuancierter als ihre biblischen Namen vermuten lassen. The Old City endet nach neun Kapiteln mit mehr Fragen, als es begonnen hat. Fragen, die auch nach dem Ende noch nachhallen. Die zerfallenden Welten um mich herum, die eindringlich vorgetragene Geschichte des Erzählers und die vielen Notizen, die in der Spielwelt verteilt sind lassen mit ihren vagen Metaphern und der uneindeutigen Symbolik viel Raum für eigene Interpretationen. Und selbst wer für sich keine Bedeutung finden kann, wird doch zumindest für ein wenige Stunden eine düstere, dystopische Welt erkunden können.
The Old City: Leviathan differenziert sich von anderen explorativen Spielen. Die meisten populären Vertreter, ob Proteus, Gone Home oder selbst das abstrakte Road to Ruin, versuchten durch ihre Welt einen persönlichen Bezug zu Spielenden aufzubauen. SoftMod legt ein deutlich verkopfteres Spiel vor, dessen Aussage sich nicht ohne weiteres herunterbrechen lässt. Und auch wenn es die Spielmechaniken des “Walking Simulators” nicht erweitert findet es doch einen eigenen Stil.
Viele halten “Walking Simulators” wegen ihrem vermeintlichen Mangel an Spielmechanik und Interaktion noch immer nicht für vollwertige Spiele. Dabei verdeutlichen gerade Titel wie The Old City, was Videospiele alles sein können. Es ist eine digitale Kurzgeschichte, die ich in meinem eigenen Tempo hören, lesen, sehen und erlebe. Es ist etwas Einzigartiges. Und ein vielschichtiges, stilles und schönes Spiel wie The Old City erinnert zumindest an eines: Diese virtuellen Sparziergänge sind gekommen, um zu bleiben — und sie haben uns noch einiges zu erzählen.
Ein Kommentar zu “The Old City: Stadt der tausend Türen”
Kommentare sind geschlossen.
für meinen geschmack zu viel text (und zu verschwurbelt), zu wenig story und zu viel laufen.
naaja :-\