Kathy Rain: Das Böse lauert in den Wäldern

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„Nostalgia is when you want things to stay the same.“ – Jeanne Moreau

Nostalgie spielt in der gegenwärtigen Medienlandschaft immer wieder eine sehr große Rolle. Überall lockt man die Spielergemeinde mit dutzenden Neu- und Sonderauflagen altbekannter und liebgewonnener Titel oder bedient sich (mehr oder weniger) geschickt der Konzepte, die Jugendliche prägten, als sie die Welt der digitalen Unterhaltung zum ersten Mal für sich entdeckten. Man versucht den Spielern heute verstärkt eine fragwürdige Verherrlichung ihrer Vergangenheit zu verkaufen – womöglich auch aus einem Mangel an unkonventionellen Ideen.

Mit fingierten und idealisierten Erinnerungen oder einem Gefühl der Pseudo-Zugehörigkeit versucht die Industrie, aus den anhaltenden Sehnsüchten nach einem unwiederbringlich verlorenen goldenen Zeitalter den größtmöglichen Profit zu schlagen. Schließlich ist weitreichend bekannt, wie stark Menschen sich mit eben diesen frühen Erfahrungen identifizieren. Es ist nun einmal einfacher, ihnen im Rahmen solcher Trends eher die vertrauten und altbewährten Dinge anzudrehen, als sie dazu zu bringen, etwas wirklich Neues auszuprobieren und Perspektiven zu erweitern. Dabei macht zu viel Nostalgie Menschen auf Dauer zu den ewig Gestrigen, indem sie jeglichen Fortschritt leugnet. Auch das im Mai erschienene Point-and-Click-Adventure Kathy Rain acht sich diese Mechanismen zunutze, beweist aber zugleich, dass ein dezenter Einsatz nostalgischer Elemente durchaus sinnvoll sein kann.

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Kathy Rain spielt in den 90er-Jahren und erzählt die Geschichte der jungen Journalistik-Studentin Katherine Rain, die aufgrund des plötzlichen Todes ihres Großvaters Joseph dazu angehalten ist, ihre Heimatstadt Cornwell Springs aufzusuchen und sich einer Vergangenheit zu stellen, die sie zuvor bewusst zurückgelassen hat. Katherine ist gegenüber anderen Menschen konfrontativ, schlagfertig und gibt sich als toughe Bikerbraut, doch sehr schnell zeigt sich, dass sich hinter dieser Fassade eine starke Unsicherheit und Verletzlichkeit verbergen, deren Ursprung in der turbulenten und dramatischen Familiengeschichte liegt.

Unmittelbar nach der Beerdigung des Großvaters begegnet Katherine noch auf dem Friedhof einem aufdringlichen Priester, der für die lokale Gemeinde wirbt. Im Haus der Großeltern angekommen, erfährt sie von ihrer Großmutter über diesen einige Details, die rückwirkend zahlreiche Fragen aufwerfen. Kathy vermutet plötzlich mehr hinter dem Tod ihres Großvaters und sie beschließt vor Ort zu bleiben und fängt an, weitere Nachforschungen anzustellen. Noch ist ihr nicht klar, dass sie sich, ihre Großmutter und ihre Freunde dadurch in schwerwiegende Gefahr bringen wird. Sie ist plötzlich dazu gezwungen, sich auch sich selbst zu stellen. Als Spieler wird man Zeuge und Akteur eines intensiven Bewältigungsprozesses, in dem Katherines Vergangenheit, ihre Gegenwart und ihre Zukunft eine Rolle spielen.

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Was geschah mit Katherines Großvater, war es womöglich Mord? Was hat die sektenartige Gemeinde im Ort mit der ganzen Geschichte zu tun? Welche Rolle spielte ihre psychisch kranke Mutter? Für Katherine ist es an der Zeit, sich auf das Motorrad zu schwingen und die scheinbare Kleinstadtidylle auf den Kopf zu stellen.

Katherine entpuppt sich im Laufe des Spiels immer mehr als ein konfliktreicher und vielfältiger Charakter mit extrem viel Charme. Wir erleben sie auf ihrer Reise in vielen spannenden und fordernden Situationen. Mal ist sie nachdenklich, mal ratlos, mal zurückhaltend und manchmal draufgängerisch. Immer wieder verlangen die Geschehnisse ihr ein Umdenken ab. Man entwickelt dabei zunehmend das Bedürfnis, sie auf ihrer Reise zu begleiten, in ihre Geschichte einzutauchen und das Rätsel ihrer Vergangenheit zusammen mit ihr zu lösen.

Ähnlich wie bei David Lynchs legendärer Fernsehserie Twin Peaks bedient sich das Spiel in seiner Erzählung immer wieder kauziger und tragischer Figuren, mystisch aufgeladener und kryptischer Momente und schafft es sehr gut, eine durchweg surreale und introspektive Atmosphäre aufzubauen, die letzten Endes zu den größten Stärken des Titels zählt. Hier zeigen sich im Hinblick auf die Machart zahlreiche Parallelen zur Genreklassikern wie Gabriel Knight oder modernen Beiträgen wie der gelungenen Blackwell-Reihe, deren Schöpfer David Gilbert ebenfalls in dieses Projekt involviert ist.

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Das Spiel verweist mehrfach explizit auf seine Einflüsse und zitiert sich leichtfüßig und unaufgesetzt durch popkulturelle Phänomene der 90er-Jahre. Zum Glück wird sehr schnell deutlich, dass hier mehr im Spiel ist als ein reines Anbiedern durch Nostalgie, denn die Schauplätze sind liebevoll und detailliert in Szene gesetzt, die Figuren wirken allesamt lebendig und die Zitate verkommen nicht zum überstrapazierten Selbstzweck. Trotz aller Parallelen und Zitate hat das Spiel einen deutlich eigenen Charakter. Darüber hinaus ist der größte Knackpunkt in spielerischer Hinsicht leider, dass Kathy Rain sich nicht wirklich traut, die genrespezifischen Grenzen sinnvoll zu durchbrechen.

Denn im Gegensatz zu seiner Protagonistin wächst das Spiel als Adventure nicht über sich hinaus. Spannend wäre es gewesen, die konventionelle Point-and-Click-Mechanik mit minimalen Optimierungen (beispielsweise im Hinblick auf das Interface) zu versehen und neu zu denken, denn die Menüführung und die Verwaltung des Inventars gestalten sich genrekonform etwas altbacken und umständlich. Auch Genrepuristen sollten anerkennen, dass dies nicht mehr zeitgemäß ist. Aus diesem Grund werden Nicht-Nostalgiker womöglich ihre Schwierigkeiten mit dem Titel haben.

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Was bleibt, ist eine gut erzählte und inhaltlich tiefgreifende vier- bis sechsstündige Charakterstudie, die viele spannende Konflikte thematisiert und zum fleißigen Miträtseln motiviert, welche aber in der Spieleflut des aktuellen Genre-Revivals unterzugehen droht. Dennoch zeigt sich hier sehr deutlich, dass der geschickte Einsatz nostalgischer Elemente nicht unbedingt ein Problem sein muss, sondern tatsächlich auch zur allgemeinen Glaubwürdigkeit der dargestellten Welt beitragen kann. Es ist eine Freude, die kleinen Details zu entdecken und die angedeuteten Parallelen selbst weiterzuspinnen. Das Spiel ist trotz aller mechanischen Ungereimtheiten kein seelenloses Konsumprodukt, sondern ein durchdachter Blick in die Vergangenheit und die Zukunft. Es wirkt selbstbewusst, nimmt die erzählte Handlung und die Interaktion mit dem Spieler ernst und begegnet diesem trotzdem mit einer sympathischen und auflockernden Selbstironie.

Insgesamt ist das Spiel für alle mit einem ausgeprägten Interesse an spannenden Charakterstudien zu empfehlen und zeigt, dass der dezente Einsatz nostalgischer Elemente auch in einer Zeit der völligen Nostalgieübersättigung immer noch einen sinnvollen Platz hat. Freunde komplexer Geschichten werden ihre wahre Freude an dem Titel haben und vielleicht gelingt es ihm sogar, nicht nur Genrepuristen in seinen Bann zu ziehen.

Für Fans von: Baphomets Fluch / Blackwell / Gemini Rue

Über den Autor: Als die Eltern damals den ersten Commodore 64 mit nach Hause brachten, eröffnete sich Wolfram eine völlig neue Welt der digitalen Unterhaltung, die er bis heute aktiv und kritisch verfolgt. Klassische Adventures und Rollenspiele wurden schnell zu seinem persönlichen Spezialgebiet. Daher ist es sicherlich kein Wunder, dass insbesondere die narrative Komponente interaktiver Unterhaltung auch heute noch einen seiner persönlichen analytischen Schwerpunkte darstellt. Während seines Germanistik- und Philosophiestudiums näherte er sich im Rahmen seiner Examensarbeit unter anderem dem Phänomen des „Enviromental Storytelling“ und auch sein musikalisches Schaffen wird immer wieder von seinen Lieblingsspielen beflügelt.