Kentucky Fried Zero
Dies ist der erste Teil unserer Analysereihe zu Kentucky Route Zero.
Deutsche Versionen: Teil 1, Teil 2, Teil 3
English versions: part 1, part 2, part 3
Vier Nominierungen und der Preis für „Excellence in Visual Art” bei den IGF-Awards 2013 sprechen eine deutliche Sprache: Kentucky Route Zero, das über Kickstarter fianzierte Adventure um einen Lieferanten, der auf der Suche nach einer unbekannten Adresse durch ein surreales Kentucky reist, ist ein außergewöhnliches Spiel. Auch die kostenlose Ergänzungsepisode „Limits and Demonstrations“, eine fiktive Kunstausstellung, deren Ausstellungsstücke sich direkt auf Figuren und Ereignisse des Hauptspieles beziehen, zeigt noch einmal, dass Kentucky Route Zero wesentlich komplexer angelegt ist, als es zunächst den Anschein hat. Doch was genau steckt dahinter? Versuchen die Entwickler nur, fehlende Substanz hinter kryptischen Andeutungen zu verbergen?
Da gerade erst Episode 1 (von 5) veröffentlicht wurde, wäre eine definitive Deutung der Handlung ungefähr so sinnvoll wie eine Interpretation von „Twin Peaks“ nach der Pilotfolge. Aber diese erste Episode ist bereits so gefüllt mit interessanten Verweisen, dass es sich lohnt, etwas genauer hinzuschauen. Jake Elliott und Tamas Kemenczy, alias „Cardboard Computer“ (Balloon Diaspora, A House in California) haben sich für Kentucky Route Zero nämlich nicht bei den genreüblichen Quellen wie Comics, Filmen oder anderen Spielen bedient, sondern sie wurden stattdessen von Kunst, Theater, Poesie und lokaler Geschichte inspiriert.
Doppelte-„immer einmal mehr als du“-Spoilerwarnung! Kentucky Route Zero lebt in großen Teilen von seiner Atmosphäre und der poetischen Erzählweise. Solltet ihr Episode 1 noch nicht gespielt haben – dann ab in den Humble Store, zack – und wir sehen uns mit euren Fragen in zwei Stunden wieder.
Wirtschaftskrise
Kentucky, der Blue Grass-Staat, ist bekannt für Whisky, Pferderennen, frittierte Hühnerkeulen und Countrymusik – Klischees, denen man in Teilen bereits zu Anfang begegnet. Doch nicht nur Alkohol, sondern vor allem die anhaltende Finanzkrise und ihre Auswirkungen auf die Menschen, ist Kernthema des Spiels. Hierzu bedient sich Kentucky Route Zero allerdings nicht bei der Literatur des „Magischen Realismus“, was der Untertitel „a magic realist adventure game“ nahe legen würde. Die Referenzen aus dieser Literaturrichtung beschränken sich auf Gabriel García Márquez’s „Hundert Jahre Einsamkeit“ und bleiben meist oberflächlicher Natur, wie etwa dem Namen Márquez oder der Adresse ihres Hauses.
Stattdessen sind es die Werke aus der Zeit der Großen Depression (1929–1941), besonders die Autoren der Südstaatengotik standen hier Pate. Diese Literaturgattung verfügt meist über seltsame, teils groteske Charaktere, die aber nie zu Karikaturen verkommen – ähnlich den Personen, denen wir in Kentucky Route Zero begegnen und welche direkt aus Carson McCullers „Das Herz ist ein einsamer Jäger“ oder Flannery O’Connors „Wise Blood“ stammen könnten. Die Erzählweise des Bewustseinsstroms und der häufige Wechsel der zu spielenden Person während der Dialoge in Kentucky Route Zero, erinnern aber eher an den Stil William Faulkners.
Der bedeutendste Roman über die Große Depression, John Steinbecks „Früchte des Zorns“, wird dieser Gattung zwar nicht zugerechnet, hatte aber ebenfalls Einfluss auf das Spiel. Er handelt von einer Familie, die an den sozialen und finanziellen Umständen auf der Straße gen Westen zerbricht und zu Grunde geht – und ist deutlich besser als „Von Mäusen und Menschen“, das wir alle in der Schule lesen mussten.
Neben Steinbecks Roman sind es die Bilder der FSA-Fotografen, die unser Bild dieser Ära bis heute prägen. Die „Farm Security Administration“ (FSA) war eine unter Präsident Franklin D. Roosevelt durchgeführte Umsiedlungspolitik die, als Antwort auf die Weltwirtschaftskrise, zu einer Kollektivierung in der Landwirtschaft führen sollte. Im Endeffekt blieb sie jedoch erfolglos und wurde sofort von der nachfolgenden Regierung aufgelöst. Heute ist dieses Projekt hauptsächlich für seine umfangreiche fotografische Dokumentation bekannt. Der bekannteste beteiligte Fotograf war Walker Evans, im Zusammenhang mit Kentucky Route Zero interessiert aber besonders Russell Lee. Dieser fotografierte 1946 im Rahmen einer Gesundheitsstudie eine über 4000 Bilder umfassende Serie über die Konditionen von Kohlenminenarbeitern in Kentucky, welche als grafische Grundlage für die im Spiel vorkommende Elkhorn Mine diente.
Die Geschichten, die sich im Spiel um die Mine ranken, basieren auf realen historischen Begebenheiten, wie sie z.B. in Studs Terkels „Der große Krach: Die Geschichte der amerikanischen Depression“ und „Working“ zu finden sind. Terkel war passionierter Sammler mündlich überlieferter Geschichten und reiste quer durch die USA, um mit seinem tragbaren Bandgerät die Erzählungen der arbeitenden Bevölkerungen aufzuzeichnen, die er dann in seiner wöchentlichen Radiosendung präsentierte.
Unter den vielen Interviews, die Trekel über die Jahre sowohl mit berühmten Persönlichkeiten, als auch mit unbekannten Menschen geführt hat, findet man auch Alan Lomax (nachzulesen in dem auch auf Deutsch erschienen Buch „Studs meets music“).
Lomax, der die riesige Volksmusiksammulng der Kongressbibliotek aufbaute und verwaltete, reiste wie Trekel durch Amerika um vor Ort Spirituals, Blues, Country und Arbeiterlieder aufzunehmen. Ihm verdanken wir, dass heute Aufnahmen von Burl Ives, Woody Guthrie oder Lead Belly erhalten sind, die andernfalls für die Nachwelt verloren wären. Die Geschichten der Musikethnologen, denen man im Spiel begegnet, sind deutlich von seinem Schaffen inspiriert. Lomax nahm in Kentucky unter anderem Aunt Molly Jackson auf, welche zu dieser Zeit im Harlan County War, einem erbitterten, gewalttätigen Streik um bessere Arbeitsbedingungen, engagiert war. Wer genaueres dazu erfahren möchte sollte sich die oscarprämierte Dokumentation „Harlan County, USA (1976)“ von Barbara Kopple anschauen.
Als letzte literarische Quelle möchte ich auf Robert Frosts Gedicht „The Death of the Hired Man“ eingehen, das Carrington, den man im Spiel an der Tankstelle trifft, als Theaterstück aufführen möchte. Das Gedicht beschreibt einen gesundheitlich wie finanziell ruinierten Farmhelfer namens Silas (interessanterweise der Name eines der Hauptcharaktere in „Balloon Diaspora“), der nach langer Abwesenheit zu einem Farmer-Ehepaar zurückkehrt um bei der Ernte zu helfen. Schnell stellt sich heraus, dass er körperlich dazu nicht mehr in der Lage ist und eigentlich nur zurückgekehrt ist, um in heimischer Umgebung zu sterben – was er auch tut, noch bevor das Ehepaar sich dazu durchgerungen hat, ihn wieder aufzunehmen. Das Spiel enthält mehrere Andeutungen, dass es sich bei Silas um unseren Protagonisten Conway handelt und die Eheleute den schemenhaft bleibenden Lysette und Ira entsprechen.
Textadventure
Das zweite Hauptthema von Kentucky Route Zero ist das Genre des Adventurespiels selbst, das in Episode 1 vom Tankstellenpächter Joseph Wheatree erwähnt wird. Joseph erzählt uns, er und sein Freund Donald seien elektronischer Schriftsteller gewesen. Später finden wir in einer Art Softwaremuseum, gefüllt mit Kunstprojekten und aktuellen Indiespielen von Anna Anthropy über Cactus bis Telltale, auch Josephs fiktives Spiel „If I Had My Way, I’d Tear the Building Down (1985)“.
Genauer wird dieser Aspekt in „Limits and Demonstrations“ beleuchtet. In der virtuellen Ausstellung findet sich ein Werk namens „Overdubbed Nam June Paik installation, in the style of Edward Packer, 1965, 1973, 1980“. Dies ist eine Re-Interpretation der Installation „Random Access” des Videokunst-Pioniers Nam June Paik, bei welcher der Besucher, indem er einen Tonabnehmer über zufällig an der Wand verteilte Magnetstreifen zieht, eine eigene Komposition zusammenstellen kann. Diese Installation wird in „Limits“ mit dem Konzept der „Choose Your Own Adventure“ Bücher von Edward Packer vermischt, die eine Vorform des Text-Adventures sind, bei der man als Leser Entscheidungen trifft und dann an eine entsprechende Stelle des Buchs verwiesen wird, um die Konsequenzen zu erfahren.
Teile des interaktiven Hörspieles, in welchem Joseph, Donald sowie die fiktive Künstlerin der Ausstellung Lula Chamberlain auftauchen, beziehen sich auf „Colossal Cave“ (auch als „Adventure“ bekannt), das allererste Text-Adventure der Computergeschichte. Geschrieben 1975 von Ingenieur und Hobby-Höhlenforscher William Crowther, hat der Spieler hier die Aufgabe eine virtuelle Höhle zu erforschen, die der Mammoth Cave in Kentucky nachempfunden ist.
Die Macher von Kentucky Route Zero programmierten bereits 2008 unter dem Namen „The Guardians of the Tradition“ ein Projekt names „Sidequest“ für eine Kunstausstellung. Hierbei handelte es sich um eine Art Text-Adventure-Collage. Man spielt „Colossal Cave“ in der Rolle seines Schöpfers William Crowther, ist gleichzeitig im Spiel wie auch bei der Entstehung desselben. Psychedelisch durchkreuzen sich Handlungsorte wie BBN Technologies, das Stanford Artificial Intelligence Laboratory, die Mammoth Cave und eine Polarstation, die in die Hohlkugel der Erde führt. Konzepte der Hohlkugel-Erde sowie der Höhlenforschung tauchen wiederum in vielen “Choose Your Own Adventure” Büchern auf. Dahinter steht die Idee, dass sich in der Erde riesige Hohlräume befinden, wie beispielsweise in Jules Vernes „Die Reise zum Mittelpunkt der Erde“ zu finden. Durch das, was wir bisher über die titelgebende Route Zero und ihren unterirdischen Verlauf erfahren haben, ist zu erwarten, dass dieses Thema in einer späteren Episode wieder aufgegriffen wird.
Der Name Lula Chamberlain, Künstlerin der virtuellen Ausstellung „Limits and Demonstrations“, verweist übrigens auf William Chamberlain. Dieser hatte Mitte der achtziger Jahre das Buch „The Policeman’s Beard Is Half-Constructed“ veröffentlicht, das angeblich komplett von seinem Computerprogramm Racter gedichtet wurde, welches Chamberlain auf einem Z-81 in BASIC programmierte. Ein weiteres Werk der virtuellen Ausstellung mit dem Namen „Visage“ ist eine direkte Visualisierung eines Gedichtes aus diesem Buch.
Das Racter-Programm wurde später von der Spielefirma „Mindscape“ gekauft und für Heimcomputer veröffentlicht, als eine leicht durchgeknallte Version von ELIZA. ELIZA (1966) war eines der ersten Programme bei dem man sich in einer Art psychiatrischen Sitzung mit dem Computer in englischer Sprache „unterhalten“ konnte. Sein Entwickler Joseph Weizenbaum – die Figur Joseph Wheattree im Spiel ist nach ihm benannt – hatte diese Sitzung allerdings als Parodie auf eine reale Psychologensitzung angelegt und war schockiert, als die Benutzer begannen mit der Maschine ihre realen, privaten Probleme zu besprechen. ELIZA hatte einen großen Einfluss auf die Entstehung des Text-Adventures, besonders auf die Entwicklung des Parsers, also jenem Teil der für die Verarbeitung der Texteingaben zuständig ist.
So wenig wie man bisher über Josephs ehemaligen Freund Donald erfahren hat, so kann man doch vermuten, dass es sich bei ihm um Donald Michie handelt, einen der führenden britischen Forscher auf dem Gebiet künstlicher Intelligenz. Er erschuf eines der ersten selbständig lernenden Programme, das „Tick-Tac-Toe“ spielen konnte. Außerdem programmierte Michie eine künstliche Intelligenz namens Sophie, die einem lernenden Kleinkind nachempfunden war. Mitte der Achtziger waren Weizenbaum und Michie oft in öffentliche Streitgespräche verwickelt, wobei Weizenbaum für einen verantwortungsvolleren Umgang mit dem technischen Vorschritt plädierte. Wer mehr darüber wissen möchte, kann sich die 2010er-Dokumentation „Plug & Pray“ anschauen. Kurz erwähnt werden sollte noch, dass auch die Márquez Cousinen nach Wissenschaftlern benannt sind und zwar den Begründern der Informationstheorie Warren Weaver und Claude Elwood Shannon, von denen sie auch Charakterzüge tragen.
Theater
Zuletzt noch etwas zum visuellen Stil von Kentucky Route Zero: Dieser ist hauptsächlich von Theater-Bühnenbildnern inspiriert. So beruht die Gestaltung des Márquez Farmhauses auf den zwei bekanntesten Inszenierungen des Arthur Miller Stückes „Tod eines Handlungsreisenden“, der Scheitern und Wahnsinn eines amerikanischen Geschäftsmannes schildert. Zum einen wird dabei auf die sehr theaterhafte Filmversion von Volker Schlöndorff zurückgegriffen, zum anderen auf die originalen Theaterinszenierung von 1949, für die der wohl einflussreichste amerikanischen Set-Designer Jo Mielziner das Bühnenbild gestaltet hatte. Eine Aufführung, die die damalige Bühne minutiös rekonstruiert, ist momentan wieder am Broadway zu sehen. Interessant ist hierbei auch, dass Arthur Miller schon in den Produktionsnotizen anmerkte, dass die Bühne zwischen Realität und Traum hin und her schwankt, wobei sich die Schauspieler je nach Szene unterschiedlich zu den Bauten verhalten. So können sie zum Beispiel in den Tag-Traumsequenzen durch Wände gehen. Diese Technik wird in beiden genannten Versionen sowie in Kentucky Route Zero wieder aufgegriffen.
Ein weiterer Bühnenbildner, den die Entwickler als Inspiration nennen, ist Beowulf Boritt, was sich besonders deutlich im Innenraum der Elkhorn Mine widerspiegelt.
Wirtschaftskrise, Adventures, Geschichte, amerikanische Literatur… bereits in den zwei Spielstunden der ersten Episode ist so viel Interessantes zu entdecken (und psst… es gibt noch so viel mehr). Ich zumindest kann mich nicht erinnern, jemals ein Spiel mit solch unterschiedlichen und schlüssig verbauten Kulturverweisen gespielt zu haben – und das obendrein noch so schön aussieht. Welche Aussagen allerdings dahinter stehen, wie sich das alles zusammenfügt und was die Entwickler letztlich anstreben, das kann man zu diesem Zeitpunkt noch nicht beantworten.
Die zweite Episode von Kentucky Route Zero soll im April erscheinen, die restlichen im Drei-Monatsrhythmus.
Gastautor Magnus macht sich nicht viel aus Twitter oder Facebook, man kann ihn jedoch mittwochmorgens im Stadtbad Schönberg antreffen.
Bildnachweise:
Beowulf Borrit Design
Ed Rusha Gas Stations
Jo Mielziner Set Design
Smithsonian Museum
National Archives and Records Administration
UBUweb