Stadtplanung mit Dampfantrieb.
Die Industrialisierung ist ein spannendes Kapitel der europäischen Geschichte: Mit dem Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft wurden die Weichen für ein Wirtschaftssystem gestellt, das im Wesentlichen noch heute Bestand hat. Gleichzeitig wuchs die Bedeutung der Städte und unter den Heerscharen von Arbeitern, die in den Betrieben ausgebeutet wurden, bildete sich ein gemeinsames Klassenbewusstsein heraus. Aus der Arbeiterbewegung entstanden politische Organisationen und Parteien, Genossenschaften, Freizeit- und Bildungsvereine.
Lethis zeichnet die Entwicklung einer Stadt in einer frisch industrialisierten Gesellschaft nach – den „Path of Progress“, wie es im Untertitel zum Aufbaustrategiespiel des französischen Studios Triskell Interactive heißt. Auch wenn die Bourgeoisie in den Begleittexten manchmal entlarvende Ansichten über das Proletariat äußert: Um Sozialkritik oder historische Authentizität geht es hier nicht. Lethis industrialisiert in Pastelltönen, in einem viktorianischen Steampunk-Fantasy-Universum, dessen wirtschaftlicher Aufschwung auf kondensiertem Dampf beruht und selbstverständlich ohne Kinderarbeit, Streiks oder gar revolutionäre Bewegungen auskommt. Im gleichen Maße, wie Banished mit seinen hungernden, frierenden Verbannten für Beklemmungen sorgt, spielt sich Lethis als Gute-Laune-Stadtmanagement – legitim ist beides.
Lethis setzt seinen Fokus auf Produktion, Versorgung und Handel. Vorbilder sind 90er-Jahre-Hits wie die Caesar-Reihe, was sich auch in der fixierten 2D-Perspektive zeigt. Kaum ist das erste Tutorial begonnen, steht fest: Lethis lebt von seinem Setting und seiner Atmosphäre. Die detailverliebte Comic-Grafik mit ihren hübschen Animationen und auch der Soundtrack, der mir persönlich zwar ein bisschen zu beliebig, aber ohne Frage sehr gelungen ist, sind die großen Stärken des Spiels.
Spielerisch überzeugt mich Lethis hingegen nicht komplett. Viel zu oft bricht mir alles in einer fatalen Kettenreaktion zusammen, ohne dass ich wirklich weiß, warum. Natürlich sollte es ein bisschen weh tun und unsere gesamte Aufmerksamkeit beanspruchen, eine zunehmend komplexe Stadt am Leben zu halten, sonst wird es zu einfach. Aber es sollte uns nicht in den Wahnsinn treiben, weil nicht ersichtlich ist, an welchen Schrauben gedreht werden muss, um das Gleichgewicht wiederherzustellen. In vielen Fällen habe ich mir in Lethis einfach mit dem Gießkannenprinzip beholfen und überall ein bisschen von allem gebaut – und immer lieber zu viel als zu wenig. Systematisch ist dieses Vorgehen nicht, aber Lethis belohnt es viel zu lange und verweigert zu häufig Hinweise darauf, wie es besser ginge.
Und hier steckt das größte Problem, das ich mit Lethis habe: sein Mangel an Benutzerfreundlichkeit. Welches Gebäude sich wo verbirgt, weiß ich dank der wenig aussagekräftigen Symbole im Baumenü und der eigenartigen Systematik selbst nach einigen Stunden noch nicht sicher. Das Tutorial, das bei Spielen dieser Art üblicherweise von großer Bedeutung ist, wird hier zur reinen Quälerei. Es erklärt viel zu wenig und fordert zugleich viel zu viel. Vieles muss ich selbst herausfinden, zentrale Funktionen wie die praktischen Filter werden nicht einmal erwähnt. Selbst nachdem ich das Tutorial abgeschlossen habe, bleiben mir manche Dinge rätselhaft: Warum geht zum Beispiel die Zahl der exportierten Güter in der Zielanzeige plötzlich wieder nach unten? Hinzu kommen kleinere technische Probleme: Die einzelnen Titel des Soundtracks brechen zumindest bei mir regelmäßig ab. Die deutsche und englische Übersetzung des französischen Spiels sind bisweilen ziemlich merkwürdig. Und wenn sich Gebäude gegenseitig verdecken, scheitert Lethis oft daran, zu erkennen, welches der beiden Gebäude ich auswählen will.
Es gibt Genres, da verzeihe ich solche spielmechanischen und technischen Mängel ohne weiteres. Wenn etwa ein Adventure eine komplexe Geschichte bietet, kann ich über umständliches Gameplay locker hinwegsehen. Die Formel ist recht einfach: Wenn mich ein Spiel über lange Zeit fesseln kann oder der Wunsch, es durchzuspielen, alles andere überlagert, dann hat das Spiel etwas sehr richtig gemacht – auch wenn es nicht perfekt sein mag. Doch die niedliche Grafik und der nette Sound reichen hier nicht aus, um mich zu ausführlichen Spielsessions zu bewegen, und das in einem Genre, das eigentlich ganz besonders auf lange Spielzeiten ausgelegt ist. Mir ist zu vieles zu unklar, etliches zu anstrengend, als dass ich den Ehrgeiz aufbrächte, die Kampagne durchzuspielen. Bereits während der ersten Kampagne breche ich das Spiel vorläufig ab, das Tutorial hat mich schon zu viel Nerven gekostet. Bis heute habe ich sieben Stunden in Lethis investiert – verdammt viel für ein Tutorial, aber verdammt wenig für ein Genre, in dem bei mir durchaus auch schon dreistellige Stundenzahlen zusammengekommen sind, wenn mich ein Titel wirklich in seinen Bann gezogen hat.
Dabei sind seine Ideen teilweise so liebenswert, dass es mir fast das Herz bricht, dass ich keinen dauerhaften Spaß an Lethis haben kann: Die Textilproduktion, die ihre Rohstoffe von gigantischen Seidenraupen gewinnt. Die humanoiden Automaten, die ab einem bestimmten Entwicklungsgrad menschliche Arbeitskräfte ersetzen können. Die Heißluftballons, die importierte und exportierte Waren ans Ziel bringen. Die Vielzahl der dekorativen Objekte und der Animationen, auch wenn sich letztere sehr schnell wiederholen – in die schöne Oberfläche von Lethis ist sichtbar viel Zeit und Mühe geflossen. Leider ist mir das in diesem Fall einfach nicht genug. Im Indie-Bereich gibt es durchaus Alternativen, die mich länger bei Laune halten: Wer es schwer und schwermütiger mag, sollte zu Banished greifen. Und mit Abstrichen bei Spieltiefe und Schwierigkeit lässt sich auch mit 1849 Spaß haben, überzeugender Cowboy-Soundtrack inbegriffen. Wer frustfester und geduldiger ist als ich, sollte Lethis dennoch eine Chance geben, allein schon seiner gelungen Ästhetik wegen.