Mit Rosen bedacht: Sweet Lily Dreams

Sweet Lily Dreams

Vorurteile sind unglaublich hartnäckig. So sehr man sich auch darum bemüht, einen unbefangenen Umgang mit Mensch und Ding zu pflegen, findet man doch allzu vieles auf Anhieb furchtbar und gründet diese Ansicht auf nichts weiter als flüchtigen Eindrücken, vormals schlechten Erfahrungen und bloßem Hörensagen. Und oft stellt man späterhin fest, dass man sich geirrt hat, dass das selbstgerecht gefällte Urteil ein vorschnelles war.

Sweet Lily Dreams ist ein Paradebeispiel dafür. Als visueller Prototyp des Genre-Super-GAUs „Girl Game“ geriert sich das Spiel durch seinen Startbildschirm, der eine beeindruckende Auswahl der schlimmsten Verbrechen an der Weiblichkeit in sich vereint. Hinter der Märchenschlossfassade verbirgt sich allerdings ein überraschend komplexes Rollenspiel, das über seine nur sporadisch offenkundigen RPG-Maker-Wurzeln deutlich hinauswächst. Diesen Eindruck trübt auch nicht die eher uninspirierte Geschichte eines jungen Mädchens, das sich im Reich der Träume und in einem Krieg zwischen zwei Fronten wiederfindet, die beide die Herrschaft über die Fantasiewelten aller schlafenden Menschen beanspruchen. Denn ihr gegenüber steht eine beachtliche spielmechanische Vielfalt, die sich in mannigfaltigen Quests, variierenden Rätselpassagen und nicht zuletzt den Kämpfen gegen eine große Gegnerschar manifestiert. Erstere fordern zwar rollenspieltypisch vor allem die Suche bestimmter Gegenstände ein, allerdings lässt sich die während der Erkundungsreisen nahezu immer beiläufig erledigen und läuft auch deshalb nie Gefahr, repetitiv zu wirken.

Zudem ähnelt kein Dungeon dem anderen, stattdessen präsentiert sich jeder zu erforschende Traum in einem neuen Gewand: Klinisch weiße Korridore wechseln sich ab mit alten Herrenhäusern, düstere Ruinen mit grimmschen Märchenwäldern. Auch die rundenbasiert mit einer kleinen Gruppe zu bestreitenden Kämpfe, sind dank der individuellen Stärken und Schwächen der hier in Form von Werwölfen, dort als überdimensionierte Pflanzen daherkommenden Widersacher fordernd und ihr Ausgang kann durch den geschickten Einsatz von magischen Fähigkeiten und diversen Ausrüstungsgegenständen maßgeblich beeinflusst werden. Und durch einen Möbelkauf. Was sich in anderen Spielen allenfalls als nettes Beiwerk präsentiert, nimmt in Sweet Lily Dreams eine zentrale Rolle ein, denn es übt einen direkten Einfluss auf Statuswerte der Kämpfenden aus.

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Weil den Möbelstücken im Eigenheim jeweils unterschiedliche elementare Attribute zugewiesen werden, ist deren Zusammenstellung nicht nur eine ästhetische, sondern strategische Entscheidung. Kampfbestimmend ist die zwar nicht, erleichtert aber manches Gefecht gegen Monster, deren Schwäche dem dominierenden Element in den eigenen vier Wänden und, bestenfalls, auch dem darin befindlichen Kleiderschrank entspricht. Das regt dazu an, immer neues Schmuckwerk entweder zu kaufen oder durch das simple Crafting System selbst zu bauen, um verschiedene Konstellationen auszutesten – je nachdem, welche im Hinblick auf die aktuelle Mission besonders nützlich erscheint.

Eben dieses System bietet außerdem die Möglichkeit, magische Schriftrollen und allerlei andere nützliche Gegenstände herzustellen, deren Materialien ebenso großzügig in der Oberwelt verteilt sind wie die lokale Währung. Damit wird eine zähe Suche nach Ressourcen geschickt umgangen und das Spielgeschehen an der richtigen Stelle vereinfacht. Sweet Lily Dreams bietet überdies keine unmöglichen Herausforderungen, aber – je nach gewähltem Schwierigkeitsgrad – einen Anspruch, der deutlich höher ist als es der pinke Anstrich vermuten ließe. Dieser scheint zwar immer wieder durch und manifestiert sich gelegentlich in haarsträubenden Dialogen, die eine klares Bild der furryliebenden, blümchenpflückenden Zielgruppe in Erinnerung rufen, doch sind solche Momente relativ selten beziehungsweise derart homogen in das Spielgeschehen eingebunden, dass sie kaum negativ auffallen.

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Das Resultat ist eben kein Standardrepertoire geschlechterrollennormierter Kinderzimmer, sondern ein RPG, dessen inhaltliche, grafische und auch musikalische Qualität, gerade weil es wohl überwiegend von nur einem Menschen entwickelt wurde, beachtlich ist. Manchmal, so zeigt sich, lohnt es sich eben doch, über den Tellerrand zu schauen.