Moralverkehr: Lupa & Gulag Paradise
Die Simulation ist vielleicht der interessanteste Aspekt von Videospielen. Hier wird erfahrbar, was sonst nur in aufwändigen Plan- und Rollenspielen möglich ist – oder wenn man neben dem Studium zufällig als Weltherrscher jobbt: Wie verhält man sich, wenn man einen Staat leiten soll? Wie wichtig sind Umwelt- und Klimaschutz, wenn man mit einer Dürre zu kämpfen hat?
Spiele wie Civilization oder SimCity ermöglichen das Hineinversetzen in komplexe Szenarien, in denen Entscheidungen deutlich interessantere Interaktionen auslösen können, als das übliche Ja/Nein/Vielleicht narrativer Spiele. Hier entscheidet im Idealfall nicht das Skript, sondern das Zusammenspiel verschiedener Regeln und Systeme darüber, welche Auswirkungen der Bau eines Kohlekraftwerkes im Wohngebiet hat. Natürlich können sie die Komplexität der Realität nicht vollständig abbilden, aber in ihrer Reduktion liegt auch die Stärke, Probleme und deren Auswirkungen auf den Punkt zu bringen.
Gute Simulationen zwingen SpielerInnen nicht nur dazu, Entscheidungen aus dem Spielverlauf heraus zu treffen, sondern erlauben zudem eine Reflexion des eigenen Handelns. Irgendwann im Verlauf einer Civilization-Partie gelangt auch der Kriegsdienstverweigerer an den Punkt, an dem Entwicklung und Einsatz von Nuklearwaffen zu einer verlockenden Option werden. Nur zu Abschreckungszwecken versteht sich. Der Nachbarstaat hat schließlich auch welche.
Aber nicht nur Allmachtsfantasien und Zombieschlachten lassen sich simulieren — auch kleinere Simulationen erlauben interessante Einblicke in fremde Systeme und eigenes Verhalten: Beispiele aus jüngster Zeit wären der Armutssimulator Cart Life, das Gefängnisverwaltungsspiel Prison Architect und Papers Please, in welchem der Alltag eines Grenzbeamten abgebildet wird. Diese Spiele sollen deshalb erwähnt werden, weil sie eine hervorragende Balance zwischen dem Handlungsmöglichkeiten innerhalb der Simulation und den Intentionen ihrer EntwicklerInnen finden. Sie verbinden traditionelle Spielkonzepte mit klaren politischen Positionen, ohne dabei die Interaktivität auf ein Minimum zu reduzieren. Egal wie erfolgreich man seinen Zeitungsstand auch führen mag, bei Cart Life kann man der Armut nicht entkommen. Sowohl Papers Please als auch Prison Architect stellen Fragen nach Menschlichkeit, Effizienz, Erfolg und Überleben.
Und es geht sogar noch kleiner, abstrakter und reduzierter. Perfekte Beispiele wären Ulitsa-Dimitrova oder Perfect Woman von Lea Schönfelder.
Alle Macht den Videospielen! Warum also nicht auch andere kritische Themen spielerisch verarbeiten? Wie wäre es etwa mit der Arbeit einer Prostituierten oder dem Dasein im Gulag? Klondike (“a superfresh collective based in northern france”) scheitert damit gradezu beispielhaft. Beides sind Beiträge zum Retro(no)Future Games-Festival, dessen Thema verschiedene Restriktionen bei der Spielgestaltung sind.Lupa
Beim Thema Prostitution entfaltet sich in meinem Kopf ein unübersichtliches Netz aus Debatten um Selbst- und Fremdbestimmung, Spaß und Dienstleistung, körperlichen-, psychischen-, ökonomischen- wie sozialen Zwängen, Kriminalität, Sexismus und nicht zuletzt moralischen und juristischen Erwägungen. Dieses Thema in einem Videospiel, das weckt bei mir Skepsis und Neugier zugleich: In Lupa spielt man eine Prostituierte auf dem Straßenstrich. Oha.
Würde Lupa all die genannten Problemfelder ignorieren, bliebe eine nette Anekdote. Ein schlüpfriger Witz in der Welt der Videospiele, vergleichbar mit GTAs Hot Coffee-Affäre. Doch Lupa will mehr als nur ein Spiel sein, das statt mit Keyboard und Maus mit Orgasmusstöhnen vor dem Mikrofon und Brüstewackeln vor der Webcam gesteuert wird. Lupa will auch ein bisschen kritischen Kommentar bieten. Wenn unsere Protagonistin nach dem Sex kein Geld bekommt, huscht das Wort “RAPE” über den Bildschirm. Zudem führt das Spielende nicht nur Buch über Einnahmen und Freieranzahl, sondern auch über erlittene Vergewaltigungen und eingefangene Geschlechtskrankheiten.
“Also most of them don’t like to pay. You may call that a rape. Your call.”
In einem Spiel, in dem man nur blanke Brüste und rhythmisch hüpfende Autos sieht, aber nichts über Personen und Hintergründe erfährt, nichts über Konsequenzen und Voraussetzungen, wirkt das schrecklich aufgesetzt. Mit viel Wohlwollen könnte man beim Akt des Stöhnens und Blankziehens vor der eigenen Webcam so etwas wie Scham und Erniedrigung empfinden, oder das logische Schummeln mit Klatschen und Fingerwackeln als Übertragung des vorgetäuschten Orgasmus von Protagonistin auf die SpielerIn interpretieren. Weder habe ich so viel Wohlwollen übrig noch gibt mir das Spiel irgendwelche Anhaltspunkte. Es ist ein alberner ‘Spaß’ und selbst wenn unsere Protagonistin diesen teilen würde, fehlt jegliche Möglichkeit, dies zu erkennen. “LUPA is a whore. (…) So ze fucks the brain out of people. Poor citizens, average workers, angry cops, fucked up billionairs, and sometimes Richard Gere“ kommentiert die Readme.txt flapsig.
Gulag Paradise
Wörter eintippen, um im sibirischen Gefangenenlager Steine zu klopfen, das beschreibt den Spielablauf von Gulag Paradise hinreichend. Die Wörter verweisen dabei allerdings auf den Kontext: “PAIN”, “FAMINE”, “SUFFERING”, “SLAVERY” muss man gegen die Uhr tippen, sonst folgt Bestrafung vom Aufseher. “I guess that’s just so you can start to feel those strong emotions that come with oppression.”, kommentiert Indiejournalist Christoph Priestman etwas hilflos. Was er sich allerdings in 600 Wörtern nicht traut, ist die Frage zu stellen, ob dies auch funktioniert. Die Antwort auf diese Frage lautet selbstverständlich: “Nein!” mit Ausrufezeichen.
“Go for a week long holiday in Gulag Paradise, a journey you will remember for the rest of your life.”
Das wiederholte Tippen von düsteren Vokabeln zu melancholischem Gesang lässt mich weder Leid noch Schmerz empfinden, bestenfalls ein wenig Langeweile. Dies als Allegorie auf das menschenverachtenden Gulagsystem zu sehen, ist wenigstens vermessen, wenn nicht komplett absurd. Hinter der poppigen Optik und dem provokanten Titel, der auf ein Ferienlager anspielt, bleibt nichts vom Thema übrig, das diskussionswürdig wäre: Keine bewegende Perspektive, kein Verweis auf Opfer oder Täter, auf politisches System und historische Zusammenhänge. Es gibt ein paar Texttafeln, die verschiedene Endsequenzen beschreiben sowie eine abgehackte Hand.
Vielleicht ist es überzogen, große Erwartungen an kleine Festivalbeiträge zu stellen und Parallelen zu den eingangs erwähnten Simulationen sind sicher mehr als übertrieben. Doch das Problem ist nicht das Medium, im Gegenteil, Spiele lieben das Nachempfinden von Rollen und Situationen wie kaum ein anderes. Das Problem ist der fehlende Respekt vor den Themen. Was spielerisch (und mit mit Zombies) vielleicht unterhaltsam wäre, betrachtet man anders, wenn direkte Bezüge zu Alltag und Geschichte eröffnet werden – in diesen Fällen zu Misshandlung, Vergewaltigung und Mord. Doch es reicht nicht, ein paar Wörter auf den Bildschirm zu malen um an Tiefe zu gewinnen. Sowohl Lupa als auch Gulag Paradise wollen unglaublich viel und erreichen unglaublich wenig. Beide wirken wie Tabubrüche um des Tabubruchs willen, ein paar schnelle Klicks für eine vermeintlich provokante Grenzüberschreitung.
Soll man diese Themen mit den Mitteln von Videospielen behandeln? Ja, auf jeden Fall! Sollte man es auf diese Weise tun? Bitte nicht.