Oquonie: Verwirrend schön

Oquonie

Die Wüstenameise (Cataglyphis fortis) ist ein ziemliches trickreiches Wesen. Klar, sie überlebt ja auch in der Wüste. Aber diese These lässt sich sogar wissenschaftlich untermauern: Wenn man einer Wüstenameise nämlich die Beine ein Stück weit amputiert – alles für die Wissenschaft! – oder aber sie künstlich mit Schweineborsten verlängert, dann verläuft sie sich einfach. Sie findet ihr Nest auf dem Rückweg von der Futterquelle nicht wieder. Gemein. Ein durch und durch trauriges Experiment, das zeigt, dass Ameisen einen eingebauten, inneren Schrittzähler haben. So zählt sie bei jedem ihrer Schritte einfach gedanklich mit.

oquonie.char1“Kluges Geschöpf…” denke ich, während ich es mir mit Oquonie auf dem Sofa gemütlich gemacht habe. Das odometrische Meisterwerk der Wüstenameise, ihre Methode zur Bestimmung von Entfernungen, wünsche ich mir sehnlichst während meiner Spielzeit mit Oquonie. Dort erwache ich zu Spielbeginn in einem 3×3 Felder großen Raum als Wesen mit einem übedimensioniertem Körperteil oder Kopf oder Hals und weiß nicht so recht, was zu tun ist. Dann beginne ich Räume und Gänge abzulaufen, um doch wenigstens irgendetwas zu tun. Als ich dann irgendetwas, scheinbar sinnvolles, getan habe, verwandele ich mich in ein anderes, ebenso unbekanntes Wesen und beginne das Spiel des Herumirrens von vorne. Orientierungslos und ahnungslos bewege ich mich entweder per Fingertippen oder Wischgesten durch die wunderschön gezeichneten Räume, bis ich nach einiger Zeit so etwas wie eine Aufgabe erahnen kann.

Statt eines eingebauten Schrittzählers und dem Sonnenstand als Kompass wie bei der geschätzten Wüstenameise, bleibt mir bei Oquonie aber nur das Merken von markanten Wegpunkten. Diese Wegpunkte kommen oftmals in Gestalt von abstrusen Vogelfiguren oder Wesen mit Zipfelmütze daher. Mein im analogen Leben sehr geschätzter Orientierungssinn wird auf eine harte Probe gestellt. Als ob der verschachtelte Ebenenaufbau nicht Grund genug wäre zum Verzweifeln, kommen ab einem bestimmten Zeitpunkt auch noch antichambermäßige Verstrickungen hinzu. Einen Raum durch eine bestimmte Tür zu verlassen bedeutet nicht, dass sich dieser Raum durch die selbe Tür auch wieder betreten lässt.

oquonie.audioAuf manchen Ebenen hängt eine kleine Karte an der Wand. Wer aber mit kindlicher Vorfreude auf sie zu rennt und so etwas wie Hilfe erwartet, wird bitterlich enttäuscht werden. Der Philosoph/Programmierer/Linguist und Entwickler von Oquonie David Mondou-Labbe, der das Spiel unter dem Namen Devine Lu Linvega veröffentlicht hat, hat ganze Arbeit darin geleistet zu zeigen, dass Zeichensysteme wie Landkarten oder Sprache, arbiträr d.h. willkürlich sind. Besitze ich nicht den entsprechenden Code zum Entschlüsseln, kann ich höchstens den interessanten Klang der Worte oder den eleganten Pinselstrich der Landkarte genießen. Die Sprache selbst bleibt mir verschlossen. So bleibt auch das System der Landkarte in Oquonie rätselhaft und ich erkenne darin nicht mehr, als ein paar schwarze Striche. Linvega gab der Sprache in Oquonie sogar einen Namen: Camilare. Ohne sie zu kennen und übersetzen zu können, ist Camilare aber nur ein weiterer Baustein, der dazu führt, dass ich mich beim Spielen orientierungslos und allein gelassen fühle. Ich fürchte, das geschieht mit voller, in der Wissenschaft so beliebten, grausamen Absicht! Man erinnere sich nur an die armen Ameisen.

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Oquonie hat diesen zauberhaften, experimentellen Charakter. Die Zeichnungen von Rekka Bell sind wunderschön und allein dafür möchte ich dieses Spiel lieben. Vielleicht würde ich das auch tun, wenn ich nicht gezwungen wäre, einen Ausweg zu suchen: Den Ausweg aus meiner Orientierungslosigkeit und den Ausweg aus all den offenen Fragen, die bleiben. Oquonie ist ein Spiel für neugierige, sehr geduldige Spieler, die sich mit dem Gefühl der Einsamkeit arrangieren können. Ob dieses Spiel damit Parallelen zum analogen Leben aufzeigen möchte, muss wohl jeder für sich selbst entscheiden. Ich jedenfalls bin mir sicher, dass ich bei meinem nächsten Besuch in einem Land, dessen Sprache mir so fremd ist wie Camilare, jene Orientierungslosigkeit und die vielen Fragezeichen wieder spüren werde. Dafür muss ich nicht erst als Ameise mit amputierten Beinen durch die Wüste irren.