Ori and the Blind Forest: Bedingungslose Liebe

Zuhause ist mehr als vier Wände und ein Dach über dem Kopf. Es sind Gedanken an die Menschen, die uns lieben, die Lieder unserer Kindheit oder selbstgestampfte Kartoffeln, die uns ein wohliges Gefühl der Geborgenheit vermitteln können. Ganz gleich, wie weit wir uns von unserer Heimat entfernt haben. Ori and the Blind Forest ist pure Nestwärme. Ein Spiel wie eine Heimkehr, nach jahrelangem Irren durch die Fremde. Am Ende bleibt nur die Frage, warum man jemals von hier weggegangen ist.

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“Let us remember the night. When I lit the skies ablaze.”

Ori and the Blind Forest erzählt in eindringlichen Bildern und spärlichen Textzeilen von der Verbindung zwischen der bärenhaften Kreatur Naru und dem zierlichen Schutzgeist Ori. Eine Freundschaft, die in ihrer Innigkeit der Liebe einer Eltern-Kind-Beziehung gleicht. Eine bedingungslose, aufopferungsvolle Liebe, deren Verlust man noch vor dem eigentlichen Spielstart selbst zu spüren glaubt, wenn Ori plötzlich allein in die Weite des zerfallenden Waldes blickt, den es fortan zu erkunden und zu erhalten gilt. Begleitet von diesem fundamentalen Gefühl der Traurigkeit, einem Schmerz im Hinterkopf, für dessen Umschreibung Melancholie ein zu schwaches Wort ist, beginnt eine spielerische Reise, die zu den besten Plattformerfahrungen der vergangenen Jahre zählt.

Die fürsorgliche Natur der Beziehung zwischen Naru und Ori spiegelt sich auch in den Spielmechaniken selbst wieder. Wie ein strenger Ziehvater disziplinieren diese den Menschen vor dem Bildschirm, wirken dabei bisweilen unbarmherzig und gemein, doch man spürt, dass nur die besten Absichten dahinterstecken. Es gleicht einem Schubser ins kalte Wasser, wenn Ori eine neue Fähigkeit erlernt und ohne viele Erklärungen gezwungen ist, sie bis zum Rande der Perfektion durchzuexerzieren. Manchmal möchte man laut aufschreien, sich weigern und einfach abhauen, aber nur das ständige Trainieren und Ausreizen der eigenen Fähigkeiten und Geduld geben das nötige Rüstzeug für die Erkundung dieses Waldes mit auf den Weg.

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“You see this tree in the background and this mushroom and this rock? That’s the one and only place you’ll ever see those assets.” (Thomas Mahler)

Das mystische Gehölz von Ori and the Blind Forest ist kein kunterbunter Flickenteppich, sondern eine homogene und, trotz ihrer Märchenhaftigkeit, glaubhafte Welt, die voll von Verstrickungen, Abkürzungen und versteckten Schätzen ist. Ori bewegt sich mit einer unbeschreiblichen Geschmeidigkeit durch lebendig wirkende Schauplätze, in denen kein Baum, kein Pilz und kein Eiszapfen sich gleichen. Es ist die nahezu perfekte Symbiose aus einfühlsamem Geschichtenerzählen, einer Spielwelt, in die man völlig versinken will, grandioser akustischer Untermalung und einer präzisen, fordernden Steuerung. Eine Vollkommenheit, der ich zuletzt vor mehr als 20 Jahren begegnete.

Doch so wohl ich mich bei Ori and the Blind Forest fühle, kommt auch hier irgendwann der Moment, an dem es an der Zeit ist weiterzuziehen. Selten hat mir ein Spiel so viel mit auf den Weg gegeben, mich so sehr getrieben und so viel von mir verlangt. Sein Rhythmus zittert in meinen Fingern weiter. Und ich hoffe, es lässt mich nie mehr los, auch wenn ich vielleicht niemals wieder nach Hause zurückkehren werde.