Pillars of Eternity: Mut zur Lücke

Anfang der 2000er spielte ich ein Rollenspiel namens Arcanum, das bei der Charaktererschaffung ein blankes Feld bereithielt. Eine leere Textbox, die mich aufforderte, meine eigene Geschichte zu erzählen, noch bevor das eigentliche Abenteuer beginnen sollte. Wer bin ich, wo komme ich her, was habe ich erlebt, dass ich mich so verhalte, wie ich es fortan im Spiel zu tun gedenke? Es war die Zeit, in der das klassische, westliche Computer-Rollenspiel begann, zunehmend ins Hintertreffen zu geraten, weil Titel wie Morrowind oder Vampire: The Masquerade die biederen, isometrischen Pen-&-Paper-Umsetzungen altbacken und steril wirken ließen. Mit diesem Aufbruch in eine verheißungsvolle, neue Rollenspiel-Ära, verlor auch ich die Motivation, mir meine eigene Geschichte auszumalen und ließ meinen Charakterhintergrund einfach offen.

pillars1

Neben dem letztjährig erschienenen Divinity: Original Sin ist Pillars of Eternity wahrscheinlich die authentischste Reproduktion einer Phase, in der, nach einigen Jahren des Herumexperimentierens, Fantasy-Erzählungen am Computer so richtig zum Leben erwachten. Nicht etwa, weil sie eine epische Geschichte möglichst spektakulär in Szene setzten, sondern weil sie Lücken ließen, welche nur die eigene Fantasie zu füllen vermochte. Waren die damaligen technischen Limitationen noch dafür verantwortlich, dass vieles statt gezeigt nur umschrieben werden konnte, sieht man heute die Vorteile darin, sich einem solchen Aufbau durch Selbstbeschränkung wieder zu nähern. Pillars of Eternity mag zwar als außereheliches Kind ehemaliger “Baldur’s Gate”-Veteranen bei seiner äußerst ertragreichen Kickstarterkampagne massiv von der Nostalgiewelle getragen worden sein, doch ist es am Ende viel mehr als ein bloßer Blick zurück geworden: Eine dringend benötigte Alternative zu Wegfindungspfeilen, Sammelquests und Ausrufezeichen über NPC-Köpfen oder Weltkarten.

“Stories of imagination tend to upset those without one.” (Terry Pratchett)

Denn so großartig, umfangreich und vielfältig Rollenspiele wie Skyrim, The Witcher oder die letzten Dragon Age-Ableger auch sein mögen, sie vermitteln ein ganz anderes Gefühl der eigenen Bedeutung in ihrer weitschweifigen Spielwelt. Hier ist man Schauspieler mit zahlreichen Freiheiten bei der Interpretation seiner Rolle, während einem ein Klassiker wie Planescape Torment die Regie selbst überlässt und im Gegenzug eine größere Eigenverantwortung abverlangt. Moderne Rollenspiele malen die Szenerie für Spielerinnen und Spieler fertig aus, damit sie sich an all ihren Facetten laben können. Parallel dazu entstehen ganze Bühnenbilder ausschließlich im Kopf, wenn bei einem Klick auf das Lupensymbol in Pillars of Eternity die ausgeschmückte Umschreibung eines Drachenskeletts und dessen mögliche Hintergrundgeschichte erscheint.

pillars 2

Diese Einbindung der eigenen Fantasie kann auf Dauer jedoch ermüden und nicht jeder ist dazu bereit, die visuelle Potenz, die der Fortschritt dem Medium verschafft hat, für die der eigenen Vorstellungskraft zu opfern. Der fehlenden optischen und akustischen Opulenz früherer Werke, die Pillars of Eternity bewusst nachbildet, stehen zudem ein hohes Maß an Komplexität und fehlender Komfort bei der Charakterentwicklung und der Benutzeroberfläche beiseite. Diese Designelemente geben einem in der Summe trotz eines fulminanten Ritts bisweilen das Gefühl, nicht der Reiter, sondern ein Ackergaul in dieser außergewöhnlichen Welt zu sein. Das Vorankommen im Spiel will erarbeitet sein und durch das ständige Pausieren und Lesen von Textwänden fällt ein Versinken in das Fantastische deutlich schwerer, als es in den fortlaufenden Weiten Tamriels der Fall ist.

Letztlich führte dieser Umstand auch dazu, dass ich mich nach über sechzehn Stunden in den zweifellos sehenswerten Landstrichen Eoras nicht mehr wirklich dazu aufraffen konnte, sie erneut aufzusuchen. Mit jeder vergangenen Stunde im Spiel erinnerte ich mich an das freigelassene Textfeld bei Arcanum und was es bedeutete. Die eigene Fantasie ist eine Leinwand, die man stets aufs Neue in den unterschiedlichsten Farben bepinseln kann, doch es scheint, als sei ich an einem Punkt angekommen, an dem ich die alten Flecken und Kleckse nicht mehr aus ihr herausbekomme. Dennoch bereue ich keine Minute mit Pillars of Eternity, hat es mir doch nach all den Jahren gezeigt, dass die Lücken im Lebenslauf eines Helden ihm nicht den Mut rauben sollten, die Welt trotzdem vor ihrem Untergang zu bewahren. Oder zumindest sich selbst.