Postindustrielle Einsamkeit: Homesick

Hier sieht es aus, als hätte wirklich lange niemand mehr aufgeräumt, denke ich mir, als ich aus meinem alten Bett aufstehe. Farbe blättert von Decke und Wänden, Regalbretter sind teilweise eingebrochen, Schranktüren fallen aus ihren Halterungen und das gräulich-schwarz vermoderte Badezimmer hat auch schon bessere Zeiten gesehen. Die Welt von Homesick ist geprägt von Verfall. Das alte Gebäude, in dem das Spiel stattfindet, erinnert mich vage an die Bilder aus der ukrainischen Geisterstadt Prypjat, die nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl im Jahr 1986 evakuiert werden musste und in der heute die nach wie vor verstrahlte Natur über den bröckelnden Beton wuchert.

Homesick

Was meine Spielfigur hier macht, weiß ich nicht, ein Spielziel gibt Entwickler Lucky Pause, der das Spiel über Kickstarter finanzierte, nicht vor. Allein: Dieses verfallende Gebäude fühlt sich so lebensfeindlich und verdorben an, dass ich es einfach verlassen will. Das geht aber nicht so einfach, denn selbst das Licht, das durch den Balkon und die Fenster nach drinnen scheint, ist so grell, dass es eine unsichtbare Wand bildet. Weiterlaufen unmöglich. Es sind solche Elemente, mit denen Homesick seine Geschichte erzählt. Die Empfindlichkeit gegenüber Licht hier, die Unfähigkeit, eine normalgroße Axt aus ihrer Verankerung zu heben da. Das andauernde Bedürfnis zu schlafen und viele kryptische Botschaften, die der Spieler erst nach und nach zu entschlüsseln lernt, ergeben im Laufe des Spiels ein Bild – nicht Textboxen oder Zwischensequenzen.

Homesick

Homesick lebt zum großen Teil, nicht jedoch ausschließlich, von seiner Atmosphäre. Ein paar typische Adventure-Elemente hat das Spiel außerdem – keine großen Puzzles zwar, eher einfache Rätsel: Da gilt es etwa, den passenden Schlüssel für ein Schloss zu finden oder einen Eimer mit Wasser zu füllen. Diese Elemente helfen dabei, dass das Herumlaufen im verwitterten Industriedenkmal nicht zum Selbstzweck verkommt und sie bilden außerdem die Brücke zu einer Reihe von Alpträumen: Immer wenn der Protagonist sich ins Bett legt, färbt sich die Welt um ihn herum schwarz. Wie Teer tropft eine feindlich wirkende, zähflüssige Masse vom Boden an die Decke und droht ihn zu verschlingen. Und dann plötzlich, im Traum, kann er doch die Axt halten und das Licht von draußen verliert seinen Schrecken. Homesick erreicht seine deprimierenden Höhepunkte in der Erkenntnis, dass mit der Welt wirklich etwas nicht stimmen kann, wenn sich Alpträume positiv von der noch viel trostloseren Realität unterscheiden.

Dieses Gebäude hat eine Vergangenheit. Doch auch die Spuren, die ich im Laufe meiner Reise davon entdecke, lassen nicht darauf schließen, dass sie glücklich war. Es sind Bilder von Industrieunfällen und Überschwemmungen, Reste von Arbeitsmaterial. Während ich diese Artefakte betrachte, spielt im Hintergrund getragene Klaviermusik. Nur wenige Dinge erinnern überhaupt an menschliches Leben, das über reine Zweckmäßigkeit hinausgeht: ein Flügel, ein paar Kinderbilder an der Wand, Bücher. Die Spielwelt ist weniger verstörend oder gruslig als vielmehr niederschmetternd. Trotzdem möchte ich meinen Trip durch die Ruine nicht missen. Ich habe das Spiel genau ein Mal gestartet und konnte mich dann nicht mehr von dieser morbiden Welt lösen bis ein paar Stunden später die Credits über den Bildschirm liefen. Danach wollte ich nur noch ins Bett.