Proteus

Ein Haiku zum Einstieg: Immer nur ballern // Schnarchen schallt in den Dungeons // Proteus ist anders! Und dieses Anderssein bringt dem audiovisuellen Experiment einige Aufmerksamkeit ein. Unter anderem die Nominierung für den begehrten “Nuovo Award” des Independent Games Festivals 2012 und die Auszeichnung zum “Most Amazing Game” auf dem A MAZE. Festival 2012 – auch wenn das Preisgeld auf sich warten ließ. Superlevel schwärmt schon im letzten Jahr von Proteus.

Jetzt ist die Beta-Phase des explorativen Musikspiels beendet und Proteus entpuppt sich als Prototyp einer neuen Computerspielgattung, die wir nicht mehr nur zielgerichtet konfigurieren, sondern in deren Stimmungen wir voll und ganz eintauchen. Es steht auf einer Ebene mit experimentellen Meisterwerken wie Dear Esther und Bientôt l’été. Proteus spielen wir nicht, wir spüren es.

Im Frühling ein Frosch
Folg’ dem Klang seiner Hüpfer!
Am stillen Hügel

Der Frühling ist eine verwirrende Jahreszeit. Schlagartig verändert sich die Natur, wird bunt, lebendig und fremdartig. Beobachtet man Spieler, die zum ersten Mal Proteus ausprobieren, so spiegelt sich diese Verwirrung in ihrem Verhalten wider. Vor allem erfahrene Spieler rennen sofort los, durchkreuzen die zufallsgenerierte Insel und halten nur kurz inne, um nach dem Sinn oder der Funktion des Ganzen zu fragen. Sie haben voll und ganz jene Definition von Spiel verinnerlicht, die nicht ohne ein Spielziel und regelgeleitete Herausforderungen auskommt. Der Hardcore-Gamer scheitert in Proteus an einem Mangel von mechanischer Herausforderung und der Unfähigkeit zum ziellosen Müßiggang. Langeweile steht dem Spielspaß als unbezwingbarer Endboss entgegen.

Ganz anders Casual-Gamer: Buchstäblich “zwanglos” finden sie sich sofort zurecht, flanieren unter klingenden Frühlingsbäumen, jagen hopsende Frösche oder beobachten staunend den Sonnenuntergang. Hier greift die Definition des niederländischen Kulturanthropologen Johan Huizinga, nach der die Spielhandlung “ihr Ziel in sich selber hat” und von einem “Bewusstsein des ‘Andersseins’ als das ‘gewöhnliche Leben'” begleitet wird. Proteus muss keinen Sinn und kein Ziel haben. Wie die gleichnamige mythologische Götterfigur, entzieht sich das Spiel einer eindeutigen Interpretation und wechselt unentwegt die Gestalt. Um auf Proteus anzukommen, muss man erst zurücklassen, was man über Computerspiele zu wissen glaubt und sich in der Stimmung der Insel treiben lassen.

Lied der Heuschrecken
Auf Regenwolken schimmert
Sommersonnenlicht

Im Sommer lichtet sich die Verwirrung. Man gewöhnt sich an die schwirrende Lebendigkeit von Proteus und erforscht neugierig die Klänge der Insel. Alles macht Geräusche – Bäume, Tiere, Gebäude – und alles tritt in Resonanz zueinander. Jede Position, jeder Blickwinkel und jede Bewegung verschmelzen zu einer neuen Klangkomposition. Wo in vielen anderen Computerspielen schlanke und gradlinige Spielerführung durch Wegpunkte und Levelschläuche vorherrscht, regieren in Proteus Zufall und Orientierungslosigkeit. Der Konsument eines Call of Duty ist, in den Worten von Gilbert Keith Chesterton, “nicht mehr frei wie der Habicht oder der Hase, er wird stattdessen zur Kuh – wenn auch an einem recht langem Strick.” In Proteus besitzt der Spieler hingegen die Freiheit, in einer ziel- und nutzlosen Welt auf Wanderschaft zu gehen. Was in Skyrim oder Liberty City nur Nebenbeschäftigung ist, wird hier zum Kern des Spiels. Es ist wie in einer taoistischen Erzählung von Zhuangzi: Ein nutzloser Baum wird nicht abgeholzt und bezieht gerade daraus seinen Nutzen; als Schattenspender, Orientierungspunkt oder Naturschauspiel. Die Funktionslosigkeit der Spielwelt von Proteus macht ihren ganzen Nutzen aus. Weil sie nichts sein muss, kann sie alles für den Spieler sein. Bis uns ein kräftiger Windstoß daran erinnert, dass die nächste Jahreszeit, der Herbst naht.

Herbstblätter fallen
Vom Turm in ruhiger Nacht
Der Schrei der Eule

Mit der getrübten Farbigkeit des Herbstes trübt sich ebenso die Stimmung der Spieler. Spätestens jetzt wird deutlich, dass Proteus nicht nur eine emotional gefärbte Insel ist, sondern auch unsere Gefühle modifiziert. Die Verwirrung des Frühlings geht in die Aktivität des Sommers und schließlich in die Melancholie des Herbstes über. Alles wird ruhiger, schwerer, blasser und schlägt sich unweigerlich in unserer Gestimmtheit nieder.

Computerspiele – und vor allem Proteus – sind keine emotionale Einbahnstraße. Die Spieler konsumieren nicht nur ein affektives Unterhaltungsprodukt, sondern stehen im wechselhaften Austausch damit. Viele Computerspiele ignorieren das und reiben uns in Cutscenes und Textschnipseln aufwendig unter die Nase, wie wir uns zu fühlen haben. Nicht so Proteus. Wie ein Gemälde von Caspar David Friedrich ist das Spiel ebenso Projektionsfläche für unsere Gefühle, wie auch ein gestimmter Raum, der uns anrührt und unsere Stimmung beeinflusst. Proteus steht ganz im Geist der Frühromantik, wie ihn Caspars Zeitgenosse Novalis ausruft: “Die individuelle Seele soll mit der Weltseele übereinstimmen!” Ed Key und David Kanaga sind nicht daran interessiert eine komplexe Erzählung zu erschaffen. Sie arbeiten sich voll und ganz an der Erzeugung einer dichten audiovisuellen Atmosphäre ab; “die gemeinsame Wirklichkeit des Wahrnehmenden und des Wahrgenommenen” wie der Philosoph Gernot Böhme dieses ästhetische Phänomen umschreibt. Zwar bieten auch Bioshock & Co. dichte Atmosphären, doch sie zerbrechen, sobald das klassische Gameplay rund um Zahlenschubserei mit Skillpunkten und repetetive Geschicklichkeitstests die Oberhand gewinnt. Atmosphäre entsteht am wirksamsten dort, wo ihr nichts im Weg steht und nichts von ihr ablenken kann, wie beispielsweise in Shadow of the Colossus oder eben in Proteus. Auch scheinbar unverrückbare Gamedesign-Prinzipien gehen manchmal in den Winterschlaf.

Nie wird es ganz hell
Schnee unter Baumskeletten
Winter ist grausam

Unter dichtem Schnee vergraben und von schweren Wolken durchzogen, ist der Winter von Proteus ein Damaskuserlebnis. Nichts Lebendiges ist zurückgeblieben und das letzte Stück Orientierung in der Dunkelheit verloren gegangen. Kurz vor seinem Ende wird Proteus fast zum Horrorspiel. Die Umgebung wirkt bedrohlich, doch nichts hat sich im Kern verändert, alles bleibt passiv, atmosphärisch. Spätestens jetzt leiden die Spieler entweder an angsterfüllter Langeweile oder gelangen zu einer einschneidenden Erkenntnis. Eine neue Designphilosophie befindet sich unaufhaltsam im Entstehen; wohl nicht, um die alte zu ersetzen, aber doch produktiv zu ergänzen. Wie schon bei Dear Esther ist die Reise durch Proteus mehr als ein kurzweiliger Zeitvertreib. Es ist ein qualvoller Sterbeprozess, der Stück für Stück alle Erwartungen an Computerspiele enttäuscht und die meisten Spieler unbefriedigt zurücklässt.

Alles ist tot im Winter des Computerspiels. Dann schließt man entweder – mit der ESC-Taste – die Augen oder lässt los und erfährt Transzendenz, Nirvana, “reine Erfahrung”. Proteus ist ein Meisterwerk, weil es uns mit seiner Insel mitklingen lässt und uns schließlich ganz allein damit lässt. Was wir daraus machen liegt an uns…

Haiku-Hinweis:
Farbcodes in Screenshots
sind Spielstände von Proteus
Download = Spielspaß! o/