Shelter

Shelter

Langsam schleiche ich durch das Dickicht. Meine Beine schmerzen, ich bin hungrig. Hinter mir ertönt ein leises Jammern, über mir der eindringliche Ruf eines Vogels, dessen riesiger Schatten über der Erde kreist. Abrupt endet das Gehölz, vor mir tut sich eine weite Ebene auf. Der nächste, rettende Unterschlupf erscheint kilometerweit entfernt. Doch es bleibt mir keine andere Wahl, als den Sprint zu wagen, angsterfüllt in den Himmel und zugleich voller Sorge hinter mich zu blicken. Dann, plötzlich: Ein schriller Schrei. Ich bin eine Dachsmutter. Und ich habe soeben eines meiner Jungen verloren.

Im weiteren Spielverlauf sollte sich zeigen, dass diese Verlusterfahrung in Shelter, dem neuen Werk des schwedischen Entwicklerstudios Might and Delight, kein einmaliges Ereignis bleiben würde. Das sich zu Beginn präsentierende Idyll einer kleinen Dachsfamilie, die gemächlich über die Wiesen humpelt sowie hier und da Rüben aus dem Boden rupft, war nicht lange von Bestand und wurde, spätestens nach der ersten Begegnung mit einem scheinbar nimmersatten Raubvogel, durch ein konstantes Bedrohungsszenario abgelöst. Hinter jedem Busch, hinter jedem Baum schienen weitere Fressfeinde zu lauern. Zugleich blieb die Sorge, nicht genug Nahrung zu finden, um alle Sprösslinge ausreichend versorgen zu können, zumal sich die jungen Vierbeiner als wenig kollegial erwiesen, wenn es galt, ihren Hunger zu stillen.

Angesichts dessen ist vor allem eines erstaunlich: Obwohl sich Shelter visuell wie auch gameplaymechanisch als recht simpel erweist, ist es dem Spiel binnen kurzer Zeit gelungen, mich dergestalt in das Geschehen einzubinden, dass ich kontinuierlich mitfieberte. Ich fürchtete, sorgte, kümmerte mich – und war immer wieder am Boden zerstört, wenn eines der Dachsjungen anderen Tieren oder den Naturgewalten zum Opfer fiel, denn ich konnte mich des Gefühls nicht erwehren, für das Wohlergehen dieser Familie verantwortlich zu sein. Allein, an dieser Aufgabe scheiterte ich kläglich. Nach und nach büßte ich weitere der unbeholfen umherstolpernden Nachkömmlinge ein – in der Dunkelheit der Nacht und dem reißenden Strom eines Flusses – bis schließlich nur noch einer übrig blieb. Immerhin wurde die Versorgung so deutlich einfacher, und damit auch das Überleben dieses einen Dachses gesichert. Vielleicht wäre es ohnehin unmöglich gewesen, sie alle am Leben zu erhalten, war der Verlust ein notwendiges Opfer.

Was mich unerwartet traf, war der starke Fokus auf die Immersion, während die Grafik deutlich in den Hintergrund trat. Was in Trailern und auf Bildern am meisten hervorsticht, fällt in der Tat während des Spielgeschehens nur am Rande auf, da das Bemühen um kollektives Überleben verträumte Spaziergänge durch die kantige, in blasse Farben getauchte Landschaft effektiv verhindert. Glücklicherweise. Shelter erfüllt damit eben nicht das Klischee des optisch überzeugenden, jedoch (vermeintlich) inhaltsleeren, digitalen Kunstwerks, sondern spielt mit den Erwartungen – und legt glaubhaft dar, wie wenig Raum für Schönheit bleibt, wenn man sich mit so profanen Angelegenheiten wie der Nahrungsbeschaffung befassen muss.

Was nach dem offenen Ende von Shelter bleibt, ist die Erkenntnis, dass es hier keine eindeutigen Prota- und Antagonisten, nichts eindeutig Gutes oder Böses gibt. Letztendlich versuchen nur alle Bewohner der Wiesen und Wälder, sich und ihre Familien am Leben zu erhalten. So auch der Raubvogel, der mir mein erstes Junges entriss.