Tengami: Bitte umblättern!

Ruhe, Sanftheit, Schönheit. Mit diesen drei Attributen ist über Tengami beinahe alles gesagt, was man als geneigter Spieler wissen muss. Der am 20. Februar erschienene iOS-Titel hat durch seinen meditativen Charme eine unwiderstehliche Wirkung auf mich ausgeübt. Die Sanftheit findet sich sowohl in der Spielmechanik als auch in der unaufgeregten Optik wieder. Hier ist alles im Einklang: Konzept, Design, Story und Musik. Ein kleines Meisterwerk, das aus der bunten Bonbon-Welt namens Appstore gerade aufgrund seiner gedeckten Farben heraussticht.

Tengami

Dabei haben sich die Indieentwickler Nyamyam mit Tengami vor drei Jahren an ein schwieriges Konzept herangewagt. Der große Plan war es, den Zauber des Pop-Up-Buches auf das Medium Computerspiel zu übertragen. Ein Unterfangen mit vielen Herausforderungen. Sie mussten mit den selben Problemen kämpfen, die sich immer stellen, wenn die Inhalte eines bestimmten Mediums auf ein anderes Medium transferiert werden sollen. Das dabei allgemein bekannteste Beispiel ist wohl die Literaturverfilmung. Drehbuchautoren und Regisseure versuchen sich immer wieder daran, Romane filmisch umzusetzen. Die Übertragung von Inhalten eines Mediums (Buch) auf ein anderes Medium (Film) kann aber nie ohne Defizite und andererseits Hinzufügungen geschehen. Bei einer Literaturverfilmung wird üblicherweise viel gekürzt und ebenso viel hinzugefügt. Textbild vs. bewegtes Bild, Ton vs. Stille., nicht gerade unkompliziert. Jedes Medium spricht verschiedene Sinneskanäle an und es muss vieles umgearbeitet werden, um die Geschichte und das Erleben eines Buches auf die Leinwand zu bringen. Leider ist das häufig begleitet mit der Enttäuschung der Buchleser, die die Verfilmung ihrer geliebten Buchvorlage gering schätzen. Dass ein Film ein Buch gar nicht ersetzen kann und sollte, da es eben ein völlig anderes Medium ist, wird dabei gerne übersehen.

Eine gute Literaturverfilmung zeichnet sich eben dadurch aus, dass sie nicht nur versucht das bisher Vorliegende in Bild und Ton umzusetzen, sondern sich ihrer Andersartigkeit bewussst ist und mit audiovisuellen Mitteln spielt. Kurz: Die gute Literaturverfilmung macht deutlich, dass sie ein Film ist und kein Buch. Diese Grundproblematik bleibt bei allen Transferversuchen gleich. Im Falle der Übertragung eines Buchs auf das Medium Digitales Spiel sieht das ähnlich aus, wobei hier neben den visuellen und auditiven Aspekten noch die interaktiven in die Waagschale geworfen werden müssen. Spannend. Umso spannender wird es, wenn es sich dabei nicht nur um irgendein Buch handelt, sondern um papiermechanische Kunstwerke wie das des Pop-Up-Buchs, das neben Text und Bild auch noch mit haptischem Erleben und Dreidimensionalität aufwarten kann.

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Pop-Up-Bücher sind seit dem 19. Jahrhundert bekannt und besonders bei Sammlern beliebt. Durch Umblättern der Seiten erschaffen papiermechanische Konstruktionen ein neues, räumliches Bild. Nicht selten gesellen sich dazu bereits länger bekannte Elemente des Movable Books, also Laschen oder Strippen, die flächige Elemente zur Bewegung bringen. Das Besondere an Pop-Up-Büchern ist ihre Vielfalt, der Erfindungsreichtum und ihre Universalität. Um ein Pop-Up-Buch zu verstehen, muss ich nicht einmal lesen können, geschweige denn eine spezielle Sprache sprechen. Zwar gibt es neben den Blattkonstruktionen oftmals auch Text, aber da beliebte Motive für Pop-Up-Bücher seit jeher Märchen, Fabeln oder Mythologien sind, sind diese auch ohne Leseverständnis zu begreifen. Kein Wunder also, dass Nyamyam sich der japanischen Mythologie bedienten und einen Samurai als zentrale Figur in die wunderschöne Bilderwelt ihres Spiels setzten.

Tengami setzt bereits zu Beginn den Kontext des Buches: Ich tippe mit meinem Finger von links nach rechts und öffne so die Seiten eines Pop-Up-Buchs, auf dem ein wunderschöner Kirschbaum im Frühling in voller Blüte steht. Doch bereits das zweite Umblättern lässt die zarten Kirschblüten zu Boden fallen, bis sie beim dritten Umblättern hin zum Winter beinah völlig verschwunden sind. Als zweidimensionaler Samurai beginne ich nun meine symbolhafte Reise auf der Suche nach drei verloren gegangen Blüten, um die Schönheit dieses Baumes wiederherzustellen. So gliedert sich das Spiel in drei Abschnitte, die Wälder, die Berge und der Ozean. In jedem dieser Abschnitte blättere ich mich durch atmosphärische Bilderwelten und versuche dabei kleine Rätsel zu lösen. Mal muss ich Wölfe zum Heulen bringen, mal per Fingerzeig Brücken über sonst unüberwindbare Flüsse bauen oder mit genauem Hinsehen meine Konzentration schulen.

Tengami führt mich dabei sanft in die Spielmechaniken ein und der Schwierigkeitsgrad harmoniert perfekt mit dem Thema, der Optik und der Ruhe dieses Spiels. Ruhe, Sanftheit, Schönheit. Da sind sie wieder, die Kernelemente, die Tengami so besonders machen. Die fantastischen Texturen wurden dem japanischen Washi-Papier nachempfunden und die Farbübergänge und Landschaften erschaffen so ein traumhaftes Erlebnis.

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Eine Geschichte gibt es auch, nur muss diese jeder selber erleben. Erzählt wird sie durch Farbe, Atmosphäre, Musik und Veränderung. Der Kontrast, den ein und die selbe Landschaft im Farbenspiel der Jahreszeiten erzählt, ist Dramaturgie genug. Die Motive der japanischen Mythologie wie Wölfe oder Torii durchsetzen das Spiel ebenso wie japanische Naturelemente wie Wasserfälle oder Brücken. Es fällt nicht schwer, sich einen Weg durch diese zauberhafte Landschaft zu bahnen, denn der Weg ist das Ziel. Das Ankommen an einem bestimmten Ziel ist zwar schön, aber durchaus nebensächlich. Bei Tengami darf der Moment genossen werden.

Wie im Gleichgewicht scheint es dabei auch zu liegen, dass die Figur des Samurai sich herrlich langsam bewegt. In meinem Kopf kann ich die Diskussion unter den Entwicklern förmlich hören, wie sie darüber streiten, ob es wirklich noch zeitgemäß ist, einer Spielfigur den optionalen schnellen Schritt zu verweigern. Sie aber haben gut daran getan, dem Zeitgeist einen sehr langsamen Strich durch die Rechnung zu machen. Denn in der Tat, auch ich erwischte mich, wie ich ungeduldig die Nase rümpfte, als mein Samurai über drei Bildschirme hinweg im Schneckentempo vor sich hin kroch. Und während er so schlich und die schöne Landschaft auf mich einwirkte, spürte ich, wie befreiend es sein kann, einfach mal kurz zur Ruhe gezwungen zu werden. Innerlich loslassen und genießen, fern sonstiger Esoterik. Muss man mögen.

Für mich stellt sich abschließend Frage, ob das Experiment der Übertragung eines Mediums wie des Pop-Up-Buches auf die Welt der Computerspiele gelungen ist. Die Medientheoretiker Jay David Bolter und Richard Grusin beschrieben 1999 das Phänomen der “Remediation”. Sie untersuchten, wie neue Medien bewusst und unbewusst alte mediale Formen aufgreifen, sie verfremden und daraus etwas neues schaffen – wie etwa das Hör-Buch oder das Fernseh-Schauspiel. In diesem Sinne ist der Transfer des Pop-Up-Buchs vielleicht ein immanenter Prozess des Mediums Videospiel? Oder ist alles doch nur ein Remix oder ein plumper Versuch, sein eigenes Werk mit Rückgriff auf bestehende, etablierte Medienformen zu rechtfertigen? Wird es nicht immer Defizite geben, wenn ich das magische Erlebnis, das Knistern und die kindliche Neugier beim Umblättern in Bits und Bytes pressen möchte? Ja, die wird es geben. Das bedeutet aber nicht, dass man es im Sinne der Umgestaltung und Remediation nicht sinnvoll – so wie bei Tengami – erweitern kann. Besonders denke ich dabei an die schönen Wasserfall- und Brücken-Rätsel, bei denen ich die Landschaft immer wieder neu verändern muss, um mir den richtigen Weg zu bahnen. In den engen mechanischen Grenzen eines Pop-Up-Buches kaum vorstellbar, im digitalen Medium aber eine willkommene und wunderschön anzusehende Abwechslung. Zwar gewöhne ich mich schnell an das Gefühl des Umblättern und nur allzu oft verliert sich auch wieder der Reiz, doch was bleibt, ist immer noch die faszinierende Atmosphäre und Landschaft.

Tengami scheint also den Trend bei Spielen fortzusetzen, der sich stilistisch an Papiervorlagen orientiert. Spiele wie Tearaway, Paper Mario oder Lume besitzen alle eine bezaubernde Naivität und einen kindlichen Charme, dem man nur schwer widerstehen kann. Tengami ist eine etwas erwachsenere, ruhigere Variante, seinen unwiderstehlichen Reiz hat es aber allemal. Diesem darf zunächst im Appstore und bald auch auf Windows, OS und auf der WiiU nachgegeben werden. Arigatou.


Gewinnspiel: Superlevel-Leser basteln ein Torii

Es gibt einen von zwei Keys für Tengami zu ergattern. Dass wir wortgewandte Leser haben, wissen wir bereits, aber wie sieht es mit der Fingerfertigkeit aus? Da kommt es gerade recht, dass Nyamyam auf ihrer Seite eine Bastelvorlage für ein Torii Tor zur Verfügung gestellt haben. Ran an Schere und Papier und her mit den Fotos eurer Kunstwerke. Gerne per Mail oder als Link in den Kommentaren. Es entscheidet die Willkür.

Einsendeschluss ist Sonntag, 30. März 2014 (23:59 Uhr). Bitte gebt zudem valide E-Mail Adressen an, damit wir die Gewinner auch erreichen können. Der Rechtsweg hat einen Papierschnitt erlitten und liegt seit dem im Krankenhaus.