"So vergeht mir der regnerische, stille Sonntag, ich sitze im Schlafzimmer und habe Ruhe, aber statt mich zum Schreiben zu entschließen, in das ich zum Beispiel vorgestern mich hätte ergießen wollen mit allem, was ich bin, habe ich jetzt eine ganze Weile lang meine Finger angestarrt."
Zu den Dingen, die ich an Franz Kafka mag, gehört seine schnörkellose Sprache. Er gab zum Beispiel nie viel auf blumige Überschriften, sondern zog knappe, deskriptive Titel vor: Der Prozess. Ein Landarzt. Der Geier. Das Schloss. Der Heizer. Dass der Entwickler Denis Galanin sein Adventure schlicht The Franz Kafka Videogame nannte, muss also kein Zeichen von Einfallslosigkeit sein, sondern lässt sich als Hommage an den Schriftsteller lesen. Das verrät einiges darüber, wie das Adventure auf Kafka und sein Werk Bezug nimmt: sehr verspielt und nicht immer auf die naheliegendste Weise. Wer sich erhofft hatte, sich in den ersten Spielminuten in einen Käfer zu verwandeln, wird bitter enttäuscht.
The Franz Kafka Videogame ist kein klassisches Point-and-Click-Adventure, sondern eine episodische Erzählung in animierten Rätselbildern. Sie folgt den Erlebnissen des Psychotherapeuten K., der den Leiden seiner Patienten mithilfe von Hypnose auf den Grund geht. Eine mysteriöse Einladung, die ein Hund in seine Praxis bringt, reißt ihn aus seinem Alltag und führt ihn auf eine Reise, die voller merkwürdiger Momente steckt und auf der die Grenzen zwischen Realität und Fantasie verschwimmen.
Im Verlauf des Abenteuers gibt es jede Menge Bezüge zu Kafkas Werk zu entdecken, die nicht immer sofort ins Auge stechen. Nicht nur die im ersten Absatz erwähnten Erzählungen und Romane finden sich wieder, sondern noch viele mehr, ob als Überschrift in einer Tageszeitung, als Origami-Tier oder als schräger Nebencharakter. Neben offensichtlichen Anspielungen wie den Namen K. und Felice wirken andere Referenzen eher wie Easter Eggs für Fans des Autors. Wer das Gefühl hat, da sei zu wenig Kafka im Spiel, muss nur genauer hinsehen. Auch Kafkas wohl bekanntester Geschichte, Die Verwandlung, wird ordentlich Tribut gezollt. Obwohl die kleinen und größeren Kafka-Würdigungen das Spiel natürlich prägen, ruht es sich keineswegs allein auf dem Werk des Schriftstellers aus, sondern ergänzt es um andere Referenzen, die zu seiner absurden Tonalität passen, von Queen-Songs bis Twin Peaks.
So absurd und einfallsreich Geschichte und Szenario auch sind: ein “kafkaeskes” Spiel ist The Franz Kafka Videogame trotzdem nicht. Denn obwohl die Handlung rätselhaft bleibt und K. sich immer wieder in Situationen wiederfindet, denen er zunächst hilflos ausgeliefert ist, fühlt sich das Spiel nie bedrohlich oder beklemmend an. Das muss es auch nicht, schließlich steckt Kafkas Werk auch voller Humor, der in der öffentlichen Wahrnehmung gerne unter den Tisch fällt, hier aber zum Glück seinen verdienten Raum bekommt. Wir reden hier immerhin von einem Schriftsteller, der über seine eigene Ohrmuschel schrieb, sie fühlte sich “frisch, rauh, kühl, saftig an wie ein Blatt.” Und so wie ein Film über Marx nicht automatisch ein marxistischer ist, muss auch ein Kafka-Spiel nicht zwingend kafkaesk sein, zumal das Adjektiv gerne sehr frei ausgelegt wird, und sei es als Beschreibung für ein düsteres Spiel mit Käfer.
Natürlich trägt auch der freundlich-kindliche Zeichenstil seinen Teil dazu bei, dass keine Beklemmungen aufkommen. Im Zusammenhang mit Kafka mag der irritierend wirken, schließlich wird Kafkas Leben und Werk in der Regel gerne in düsteren Tönen gezeichnet. Dass Galanins Würdigung anders ausfallen würde, war allerdings zu erwarten, seine charakteristische Handschrift ist schließlich schon aus seinem letzten Spiel Hamlet bekannt. Und wer sich an einem Shakespeare-Spiel in bunter, kindlicher Anmutung nicht stört, sollte das bei Kafka erst recht nicht tun: Schließlich ist dessen Werk um ein Vielfaches unblutiger als das des englischen Meisterbarden, der alles andere als Kinderliteratur geschrieben hat. Ich jedenfalls mag Galanins Zeichnungen und die spärlich, aber hübsch animierten Szenen und finde, dass sie auch seinem Motivgeber gerecht werden.
Die Rätsel sind überwiegend originell und anspruchsvoll. So muss zum Beispiel am Anfang ein Schieberätsel gelöst werden, bei dem ein QR-Code zum Labyrinth wird. Es spricht für das Auge und die Fantasie des Grafikers, dass er ungewohnte Perspektiven wie diese erkennt und sie in ein funktionierendes Rätsel überträgt. Viele der besten Rätsel spielen in ähnlicher Weise mit unseren Sehgewohnheiten und deuten Altbekanntes in Neues um. Wunderschön sind etwa auch die Brettspielrätsel, bei denen Galanin aus einem bekannten Spielprinzip clevere Logik-Puzzles baut, deren Lösung wirklich Spaß macht.
In den meisten Rätseln steckt erkennbar viel Hirn und Mühe, und es gab für mich nur wenige negative Ausreißer, die eher lustloses Herumprobieren als logisches Denken belohnten. Gerade bei diesen offenbarte das Spiel allerdings eine seiner Schwächen. Galanin hat nämlich – an sich löblich – ein zweistufiges Hinweissystem eingebaut, das nach drei Minuten den ersten, nach weiteren zwei Minuten den zweiten und letzten Tipp gibt. Leider ist allerdings der Sprung vom ersten zum zweiten Hinweis oft viel zu groß: Manchmal brachte mich der erste Tipp keinen Millimeter weiter, während mir der zweite dann die Lösung auf dem Silbertablett servierte. So pendelte ich im Spielverlauf zwischen Rätseln, die ich mir ohne Hilfe erschloss und solchen, die das Spiel nach fünf Minuten für mich löste, weil ich nach dem ersten Tipp nicht klüger war als zuvor. Das Hilfesystem bot mir stets nur die Wahl zwischen Demütigung und Bevormundung. Die erzwungenen Wartezeiten dazwischen saß ich zudem eher gelangweilt ab, als dass sie mich motiviert hätten, es weiter zu probieren. Für den Spielfluss und das Erfolgserlebnis kann so etwas tödlich sein.
The Franz Kafka Videogame ist ein kurzer Spaß: Nach zwei Stunden hatte ich es durchgespielt. Ich mag Spiele, die sich in zwei bis vier Stunden, also an einem Abend, abschließen lassen, wie zum Beispiel aktuell das wundervolle What Remains of Edith Finch. Allerdings, und das ist der zweite größere Kritikpunkt, fühlt sich das Kafka-Adventure kürzer an, als es tatsächlich ist. Das liegt an der speziellen Mischung aus kurzen Handlungssequenzen und Rätseln: Trotz seiner schönen Atmosphäre und der skurrilen Szenen und Charaktere verbringt man die meiste Zeit eben mit dem Lösen von Rätseln, und das bleibt weniger intensiv in Erinnerung als die kurze, aber durchaus gelungene Handlung.
Fast wünschte ich mir, Galanin hätte den spielerischen Anteil etwas zugunsten der Geschichte zurückgefahren. Andererseits will The Franz Kafka Videogame eben auch kein interaktiver Film sein, sondern ein Puzzle-Adventure, und einige seiner stärksten Momente verdankt es ohne Frage seinem Rätseldesign. Die Frage der Gewichtung ist deshalb keine ganz einfache. Letztlich geht es dabei um den letzten Feinschliff, der das Spiel noch ein wenig besser und vielleicht auch massenkompatibler gemacht hätte. Für mich wiegen die Handlung, die charmanten Szenen und die meist sehr gelungenen Rätsel insgesamt schwerer als die Mängel, die das Spiel hat. Zudem gefällt mir Galanins ungezwungener Umgang mit seiner literarischen Inspiration. Damit ist der Entwickler schließlich ein gewisses Risiko eingegangen: Auf kaum einen Schriftsteller wird nicht nur hierzulande so viel projiziert, kaum ein anderes Werk wird mit so viel und so schwerer Bedeutung aufgeladen wie seines. Wer von dem Spiel erwartet, sein eigenes Kafka-Bild bestätigt zu sehen oder etwas über den Schriftsteller und sein Werk zu lernen, sollte deshalb dringend die Finger davon lassen. The Franz Kafka Videogame ist eine zugegeben kleine, aber feine Spezialität für Freunde rätselbasierter Spiele, die ein Herz für Absurdes und keine Berührungsängste mit Weltliteratur in Bilderbuchoptik haben.