The Lion's Song ist der erste Satz einer unvollendeten Symphonie.
Gut möglich, dass daraus ein Meisterwerk wird.
Ich sitze an meinem Schreibtisch, das Notebook liegt aufgeklappt vor mir. Der Cursor blinkt erwartungsvoll. Doch ich kann mich nur auf den Wind konzentrieren, der laut durch das offene Fenster im vierten Stock des Altbaus pfeift. Mir geht es genauso wie Wilma, der Hauptfigur der ersten Episode des Point-and-Click-Adventures The Lion’s Song. “Silence” heißt diese und handelt von Wilmas Suche nach eben dieser Stille, die auch ich gerade nicht finden kann.
Wilma, die es aus einem kleinen Dorf ins große Wien zog, studiert unter der Aufsicht ihres Mentors Arthur an der dortigen Musikakademie. Doch statt ihre Kreativität entfalten zu können, ist sie gefangen zwischen dem Erwartungsdruck der Musikszene und der Enttäuschung unerwiderter Liebe zu ihrem Professor. Um abseits all dieser Ablenkungen ihre neueste Komposition vollenden zu können, schickt Arthur sie zu einer abgelegenen Hütte in den Alpen. Es wird ihr bestes Stück bisher, dessen sind sich schon vorher alle einig. Doch die vermeintliche Ruhe und Abgeschiedenheit der Hütte lassen Wilmas Ängste nur umso lauter klingen…
The Lion’s Song spielt sich wie ein Point-and-Click-Adventure, aber das ist eher eine Formsache. Rätsel stehen der Erzählung nicht im Weg. Stattdessen sucht Wilma nach Quellen der Inspiration oder gibt sich Mühe, die Ablenkungen zu ignorieren. Ein Klick auf die flackernde Öllampe etwa bringt Wilma auf die Idee für einem tänzelnden Rhythmus, ein weiterer auf den knarzenden Dachbalken liefert die Erklärung für das störende Geräusch. Dezente Animationen im Text unterstreichen dabei immer wieder Wilmas Gefühle. Manche Buchstaben schütteln sich, andere schweben in einer sanften Welle.
Noch wichtiger als Worte sind aber die Bilder. Wilma verbringt die Tage entweder am Schreibtisch oder auf der Veranda. Nachts plagen sie Albträume, deren Symbolik viel Material zur Traumdeutung bieten. Jede Szene ist ein fast fotografisches Stillleben. Die gestalterische Zurückhaltung, von den reduzierten Hintergründen bis zur auf Sepia-Töne beschränkten Farbpalette, lässt viel Raum, um die Details selbst auszufüllen. Gerade durch diesen Verzicht auf Ablenkung schafft es The Lion’s Song Wilmas innere Unruhe auf eine Art zu vermitteln, die wohl jeder Mensch nachvollziehen kann, der schon einmal kreativ gearbeitet hat.
The Lion’s Songs ist selbst die Vollendung einer unfertigen Komposition. Herzstück ist eine zwei Jahre alte Szene, die als Gamejam-Beitrag zum Ludum Dare entstanden ist. Wilmas zufälliges Telefonat mit einem Fremden ist nach wie vor eine der erinnerungswürdigsten Stellen des Spiels. Auf die erste Episode “Silence” werden drei weitere folgen, die lose miteinander verbundene Geschichten anderer Künstler erzählen. Wilmas Kampf gegen die Schreibblockade endet nach einer knappen Stunde. Ob er ihr den Erfolg bringt, den sie sich wünscht, bleibt letztendlich offen. Das erste Kapitel von The Lion’s Song ist eine mit den einfachsten Mitteln eines Adventures erzählte Kurzgeschichte über Inspiration. Doch wer danach sucht, kann noch viel mehr darin finden.