The Sailor's Dream: Im Traum versunken

Heute war kein guter Tag. Vielleicht lag es am Stress auf der Arbeit, vielleicht an einem unnötigen Streit. Vielleicht lag die Ursache für meine Stimmung schon länger zurück, vielleicht habe ich es schon vergessen. Aber jetzt ist es Abend. Ein Glas Rotwein und ein Stück Schokolade, ein Kissen im Rücken. Und Zeit für Videospiele. Für mich gibt es keine bessere Art, dem Alltag zu entfliehen. Auf meinem iPad starte ich The Sailor’s Dream, das neue Spiel der Schöpfer von Device 6 und Year Walk, setze die Kopfhörer auf und lasse den Tag hinter mir.

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Ich bin auf See. Es scheint ein wenig nebelig zu sein. Ich rudere mit meinem Finger durchs Wasser, bis ich auf eine Insel stoße, auf der ein verlassener Leuchtturm steht. Ich rudere auf ihn zu, lege an, erkunde seine Treppen und Gänge. Der Turm scheint gleichzeitig unter und über Wasser zu liegen. Ich tauche wieder auf, zurück zum Sonnenlicht. Die Musik wird plötzlich lauter, bedrohlicher und der helle Bildschirm blendet mich nach der Dunkelheit fast. Schnell rudere ich zurück, woher ich kam und ein Gefühl der Erleichterung breitet sich in mir aus, als die Musik wieder wärmer und einladender wird. Hier im Bauch der Ruinen, die ich erkunde, fühle ich mich sicherer als an der Oberfläche.

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Wenn ich nicht gerade den Auszug aus einer Geschichte lese, singt mir die Welt ein Lied und lädt mich ein, dabei mitzuspielen. Ich jage die Glühwürmchen, die in dem Gang schweben oder lasse sie aus dem verkorkten Glas heraus, worauf sie als Glockenspiel emporfliegen. Ich ziehe an den leuchtenden Saiten und verliere mich für Minuten in den Klängen, die ich damit erzeuge. Und wenn ich jeden Winkel erkundet habe, tauche ich wieder auf, lasse los, kehre zurück an die Oberfläche und rudere weiter zur nächsten Insel.

All zu schnell scheint die Geschichte erzählt zu sein. Die Geschichte von dem Mädchen und dem Seefahrer mit der Tätowierung auf dem Arm. Eine Geschichte vom Feuer, dass sich im Ozean spiegelt und von den Wellen, die vom heranziehenden Sturm Kunde tun. Und die Geschichte von einem Ruderboot. Geschichten von Schuld und Vergebung, vielleicht. Bestimmt hatte das Mädchen auch keinen guten Tag. Und der Seemann ebenfalls nicht. Vielleicht interpretiere ich das aber auch nur aus meiner eigenen Stimmung in das Spiel hinein.

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Am Ende offenbart der Traum mir, dass da noch mehr ist. Etwas, das sich nur auf eine Art erreichen lässt: mit Geduld. Kein Rätsel, keine Highscore, kein In-App-Purchase kann es freischalten. Die einzige Art, auf die ich mehr von dem Spiel haben kann, ist warten auf die nächste Ebbe oder Flut. The Sailor’s Dream verlangt von mir, dass ich es beiseite lege. Es dauert einen Augenblick, bis mir das wirklich bewusst wird und noch einen weiteren, bis ich mich vom Gedanken lösen kann, einfach die Uhrzeit am iPad zu verstellen und zu schummeln.

Ist The Sailor’s Dream ein Videospiel? Es befindet sich auf jeden Fall in der entsprechenden Kategorie im App Store. Vielleicht ist es aber auch ein Buch oder ein Lied oder etwas anderes. Eigentlich weiß ich gar nicht, welche Rolle diese Frage spielt. Ich weiß nur, dass The Sailor’s Dream in diesem Moment etwas war, das mir gut getan hat. Für einen kurzen Moment konnte ich in eine Traumwelt versinken, an diesem Tag, der bis dahin kein sonderlich guter war.