The Walking Dead Season 2: Episode 1 "All that remains"
“Wer damit anfängt, daß er allen traut, wird damit enden, daß er jeden für einen Schurken hält.” (Christian Friedrich Hebbel)
Bald werde ich mit meiner Familie in den Urlaub fliegen und ich muss darauf vertrauen, dass der Pilot an diesem Tag nüchtern ist, eine gültigen Flugschein hat und im Idealfall ausgeruht und umsichtig ist. Mein Leben und das meiner Familie hängt von der Sorgfaltspflicht vieler Beteiligter am Flughafen, der Fluggesellschaft und der zuständigen Bordcrew ab. Diesen mir noch völlig unbekannten Personen gewähre ich gerne einen Vertrauensvorschuss, da sich die Airline in der Vergangenheit durch wenige Flugunfälle auszeichnete und somit einen guten Ruf erwarb. Mein Vertrauen basiert auf Erfahrungswerten und Geschehnissen in der Vergangenheit. Diese Art von Grundvertrauen wird uns tagtäglich in vielerlei Situationen abverlangt: Beim Lesen der Zeitung oder beim Überqueren der Straße. Wir vertrauen darauf, dass man uns – meist – die Wahrheit sagt und dass ein Auto anhält, wenn die Ampel auf rot springt.
Könnten wir das nicht, würden wir sehr leicht in eine Identitätskrise gelangen und im schlimmsten Fall können wir kein “normales” Leben mehr führen. In westlich geprägten Kulturen ist das Überleben von Personen, die zu sozialer Interaktion nicht fähig sind zum Glück halbwegs gesichert, aber wie sähe das in Szenarien aus, in denen keine schützende Hand über uns weilt? In einer Welt, in der die Grenzen zwischen Freund und Feind fließend sind? In der wir schutzlos ausgeliefert sind und deren Zusammenhänge wir nicht einmal ansatzweise verstehen? Diese Welt ist Clementines Welt. Sie hat nicht nur ihre Eltern und Freunde, sondern auch ihren engsten Vertrauten und Beschützer Lee verloren. Die Erfahrungen, die sie gemacht hat, gäben ihr allen Grund dazu, zu verzweifeln und Niemanden mehr an sich heranzulassen. In Season 2 von The Walking Dead schlüpfe ich als Spieler oder Spielerin endlich in die Rolle des kleinen Mädchens, deren Überleben ich im 1. Teil so hart erkämpfen musste und welches mich die ein oder andere Träne kostete.
Am Grundkonzept des Spieles hat sich nichts geändert: Es ist eine interaktive Geschichte, deren Fokus nicht auf möglichen Handlungsoptionen liegt, sondern auf der Interaktion mit anderen Menschen. Der eingebaute Timer bei Dialogoptionen setzt den Spieler auch hier bewährt unter Druck und ermöglicht bzw. erzwingt impulsive Entscheidungen aus dem Bauch heraus. Ein sorgfältiges Abwägen und Taktieren wird unmöglich. Aber genau dieses Abwägen und Taktieren ist die Grundvoraussetzung für jede Interaktion mit anderen Lebewesen. Wir müssen Risiken einschätzen und die Möglichkeiten abwägen, wir schenken Vertrauen oder Misstrauen. Aber sowohl Clementine als auch alle anderen Überlebenden haben für derlei Spielchen keine Zeit. Freund oder Feind? Diese Entscheidung basiert auf dem Grad der eigenen Verzweiflung und Not. Nur bei Zombies, da weiß ich Bescheid: Kopf ab. Aber andere Menschen, die können alles sein: Retter in der Not oder Henker in den Tod. Hineingeworfen in diese tödliche Welt bleibt mir als Clementine dennoch nichts anderes übrig, als Gefährten zu suchen. Die Schwierigkeiten dieser Suche nach vertrauenswürdigen Personen, nach Schutz und einer Art Heimat irgendwo in den Wäldern Nordamerikas ist das oben liegende Thema von “All that remains”. Eindringlich schafft es diese Episode, mir das Gefühl von Einsamkeit und Leere zu vermitteln und den Wunsch nach Kontakt zu anderen Menschen als grundlegendes Bedürfnis des Menschseins herauszustellen. Einen großen Beitrag dazu leistet das Szenario des Waldes, denn der Mensch in unberührter Natur dient seit jeher als Sinnbild für die Machtlosigkeit und Ausgeliefertheit des Einzelnen.
Das Verbundenheitsgefühl und der labile Übergang zwischen meinem Ich und der Spielfigur Clementine, der mich so tief in das Geschehen eintauchen lässt, wird zudem durch die kurze Rückblende am Anfang der Episode begünstigt. Als Spieler oder Spielerin hat man die Wahl, die bisherigen Entscheidungen in Form der alten Spielstände aus The Walking Dead Staffel 1 zu übernehmen. Sollten keine Spielstände mehr vorhanden sein – Steam speichert sie zum Glück in der Cloud – werden die Entscheidungen durch Zufall ausgewählt. Inwieweit sich die bisherigen Entscheidungen auf die weitere Handlung auswirken werden, bleibt noch abzuwarten. Die Rückschau allerdings wurde beeinflusst und besonders der erneute Anblick meiner Handlung in Zusammenhang mit Lees Ende riss alte Wunden auf. Jetzt fühlte ich mich elend und war somit perfekt eingestimmt auf das weitere Geschehen.
Clementines Geschichte bildet eine bewährte Bühne, um die Grundvoraussetzungen menschlichen Zusammenlebens auszuleuchten. Das Neue in “All that remains” ist weniger das Schlüpfen in die Rolle des vermeintlich hilfsbedürftigen Mädchens, geschweige denn gameplaytechnische Elemente, sondern es sind die Grundfragen, vor deren Hintergrund sich die Geschichte entspinnt. Das Thema Vertrauen prangt einer Leuchtreklame gleich über der Handlung, denn in der Tat ist Vertrauen “alles was bleibt”. Diese Episode hat einige Höhen und Tiefen, die brutalsten Momente können aber angesichts der in Season 1 gemachten Erfahrungen kaum noch schocken. Widerwillig musste ich eine gewisse Abgestumpftheit bei brutalen Szenen an mir feststellen. Stattdessen sind es die stillen und leisen Töne, die mich emotional berühren und das werden sie umso stärker tun, je mehr ich die neuen Gesichter dieser Staffel kennen- und lieben lernen werde. Für die emotionale Bindung zu den Anderen benötigt es noch ein wenig Zeit, aber es besteht kaum Zweifel, dass Telltale Games es erneut schafft in den nächsten Episoden differenzierte und spannende Charakterbilder und Konstellationen darzustellen. Darauf vertraue ich gerne.