Treffen sich ein Walking-Simulator und die Frage nach dem Sinn.
Es gibt wenige Spiele, die mich völlig ratlos zurücklassen. Die mir nicht mal ein Fünkchen an Kontext liefern, um mich die Welt, in der ich mich bewege und, im Idealfall, Entscheidungen mit Konsequenzen treffe, besser verstehen zu lassen. Scheinbar musste sich der dank des Überraschungserfolgs seines Plattformers Braid von 2008 zur Legende mutierte Indie-Designer Jonathan Blow erst wieder aus seinem Thron erheben und mit Thekla, Inc. ein Entwicklerteam um sich scharen, um mir abermals mit der Holzhammer-Taktik vor Augen zu führen, wie blöd ich mich in virtuellen Welten anstellen kann.
Dabei macht es mir The Witness, das sich seit 2009 in Entwicklung befand, zunächst relativ leicht. Die nicht näher definierte Spielfigur, die ich aus der Egoperspektive steuere, startet ihre Reise in einem Tunnel, an dessen Ende bereits die Grundform des wichtigsten interaktiven Elements des Spiels auf mich wartet: Ein geradliniges Puzzle, bei dem ich von einem vordefinierten Startpunkt aus einen Weg durch ein durch zahlreiche Hindernisse eingeschränktes Gitterlabyrinth nachzeichnen muss, ohne mir dabei selbst den Weg zu blockieren – Tron und Snake lassen grüßen. So weit, so simpel. Doch sobald man aus der klaustrophobischen Enge in die freie Natur tritt und deren farbenprächtige, einfach texturierte und doch erfrischende Umgebung auf sich wirken lässt, fällt relativ schnell auf, dass es sich an dieser Stelle beinahe schon mit dem spielbezogenen Händchenhalten erledigt hat. Die im Innenhof einer burgartigen Anlage ausgelegten Kabel führen zu verschiedenen Konsolen, an denen wieder Labyrinth-Rätsel in unterschiedlichen Abwandlungen zu lösen sind. Mal müssen eine bestimmte Anzahl an Wegpunkten passiert, mal bestimmte Quadrate ausgeklammert, mal exakte geometrische Formen nachgezeichnet werden, um wieder andere Bedienfelder mit Strom zu versorgen. In der Spielwelt ziemlich deplatziert wirkendes Mobiliar steht unmotiviert in einer Ecke des Gartens herum und eine große Energiebarriere versperrt den Weg nach draußen. Tutorial? Hilfestellungen in Form von blinkenden Einklinkern am Rande eines HUDs, das in The Witness ohnehin keine Daseinsberechtigung hat? Fehlanzeige.
Doch das Grübeln und Ausprobieren lohnt sich. Selten hat ein Spiel bei mir für so viele Aha-Momente gesorgt. Jede neue Puzzle-Variante überfordert mich nach einer Reihe leichter Einstiegs-Rätsel erst mal heillos, ist aber nie so unfair gestaltet, dass einem das Verständnis des jeweiligen Grundprinzips verwehrt bleibt. Jeder neu erschlossene, oftmals gut versteckte Schleichweg, der mich durch die unterschiedlichsten Klima- und Vegetationszonen der in kräftigen Farben bepinselten Insel führt, geht einher mit einem Gefühl, wirklich etwas aus eigenem Antrieb erreicht zu haben. Damit stellt The Witness die mittlerweile zwangsweise gelernte Tooltip-Manie an den Pranger – selbst sind die Spieler*innen. Bei meinem Trek durch rosa Wäldchen, von versteinerten Menschen bevölkerte mittelalterliche Ruinen und Ausgrabungsstätten in der Wüste stellt sich mir allerdings gerade zu Beginn in unangenehm regelmäßigem Rhythmus die Frage, die ein Spiel eigentlich aus sich heraus beantworten sollen könnte: Warum das alles? Auch als ich beispielsweise ein durch fleißiges Rätseln erhaltenes Lösungs-Diagramm an einem gänzlich anderen Ort zum Einsatz bringen kann und in einem Heimkino tief unter der Erde ein Lehrfilmchen über Wissen und Wissenschaft gezeigt bekomme, bleibt meine Mission reine Spekulation.
Was haben die vereinzelt verstreut herumliegenden Konsolen ohne jegliche Verknüpfung mit anderen Rätseln mit meiner Aufgabe zu tun? Soll ich als Messias-Figur fungieren und die versteinerten Figuren wieder zum Leben erwecken? Setze ich mit meinem unermüdlichen Herumgehacke auf roten, grünen, blauen, gelben und schwarzen Schalttafeln eine Maschine in Kraft, die mich entweder von der Insel herunterbringt oder selbige wie Atlantis im Meer versinken lässt? Handelt es sich nur um einen Traum eines Komapatienten, der durch die metaphorische Verknüpfung der Steuerpulte seine Synapsen wieder zum Laufen bringen will? Oder geht es einfach um die Erkenntnis, auch dann weiterzumachen, wenn man nichts weiß? Erst nach einiger Zeit erschließt sich eine grobe Grundmotivation, die allerdings jeder für sich selbst entdecken sollte. Denn The Witness ist weniger ein Spiel als ein knallbunter Heuristik-Simulator.
Zu diesem Eindruck tragen auch die überall verteilten Diktiergeräte bei, die mir einen etwas genaueren Einblick in die dem Spiel zugrundeliegenden, theoretischen Konzepte geben. Wissenschaftler, Philosophen und Theoretiker wie Albert Einstein äußern sich in den von stimmig ausgewählten Sprechern vorgetragenen Zitaten zu Themenkomplexen wie Religion, der Suche nach Wissen und der Entschlüsselung der Geheimnisse des Universums – darunter vertraute Stimmen wie die von Ashley Johnson (Ellie aus The Last Of Us) oder Phil LaMarr (Vamp aus Metal Gear Solid). Während Einstein und Co. aber wissen, wovon sie reden, müssen sich meine namenlose Spielfigur, die man nur als Schatten im Gras zu Gesicht bekommt, und ich mit Müh und Not an der Schlussfolgerungskette entlanghangeln und drehen uns mangels fehlendem Ankerpunkt häufiger munter im Kreis.
Die Stärke von The Witness, wie auch schon bei Blows erstem Spiel Braid, ist sein Spiel mit Erwartungshaltungen. Man denkt, man hätte das Spielprinzip umrissen und schon zieht es einem den Boden unter den Füßen weg. Gerade hat man ein komplexes Rätsel aus einer Reihe gelöst, da wird einem im nächsten schon wieder eine völlig andere Denkweise abverlangt. Das ist besonders kritisch, da der rote Faden zu Beginn von The Witness schlicht und ergreifend fehlt. So braucht es schon eine hohe Frustrationstoleranz und akribische Beschäftigung mit den jeweiligen Spielumgebungen, die immer Hinweise auf die korrekten Lösungen beinhalten, bevor die Erfolgsmomente nach dem Lösen besonders kniffliger Rätsel nicht direkt wieder vom Vakuum der fehlenden Sinnhaftigkeit verschluckt werden. Andere Quasi-Walking-Simulatoren, wie Dear Esther oder Gone Home, machen das meist besser und bringen die präsentierten Einschübe, welche die Story vorantreiben, von Anfang an in einen logischen Zusammenhang. The Witness hingegen lässt bewusst viele Fragen offen, fordert Spieler*innen heraus und zwingt mich ein ums andere Mal, völlig um die Ecke zu denken und mir an einer scheinbar simplen Aufgabe die Zähne auszubeißen – um mich danach feststellen zu lassen, dass die Lösung eigentlich auf der Hand lag.
Da war es an einigen Stellen allerdings schon zu spät. Schließlich muss man sich auch mal seine Schwächen eingestehen können: Mehr als einmal führt mich mein Weg zu Lösungsvideos, deren Konsum mir ein ziemlich schlechtes Gewissen macht. Sind wir als Spielergemeinde mittlerweile so verwöhnt und abgestumpft, dass logisches Denken und Kombinationsgabe durch Bequemlichkeit und mangelnde Geduld ersetzt wurden? Eines wird durch den kniffligen Spaziergang über die Insel allerdings klar: Blow und seine Spieleschmiede servieren Spieler*innen nichts auf dem Silbertablett. Wer mit sich selbst im Reinen bleiben und trotzdem das Ende von The Witness erleben möchte, verbringt für einige Zeit vielleicht mehr Stunden mit den kunterbunt verkabelten Konsolen als mit essen oder schlafen. Dafür sind die Auseinandersetzung mit den eigenen Grenzen und der Erkenntnisgewinn etwas, das man so im Rahmen eines Videospiels noch nicht gesehen hat. Ich habe dank YouTube das Ende der Reise schon hinter mir – und trotzdem noch etliche ungelöste Rätsel vor der Brust, die vielleicht noch mehr Licht ins Dunkel bringen. Mein nächster Trip auf die Insel ist schon gebucht – und diesmal dann wirklich unter dem Motto “Der Weg ist das Ziel”.