Gedankenspiele: Über Tutorials

handbuecher

Es war immer ein besonderer Moment, wenn ich die dicke Pappschachtel eines neuen Spiels bereits in der Bahn nach Hause öffnete, um mich voller Vorfreude durch die umfangreichen Begleitbücher zu wälzen. In einer Zeit, in der komplexe Rollenspiele wie Baldur’s Gate oder Arcanum ihre Blüte trugen, waren diese wie unersetzliche Fremdenführer für mich, weil sie mir die fantastischen, neuen Welten erklärten, bevor ich sie überhaupt installiert hatte. Nun ist das Leben allerdings kein endloser Werthers-Werbespot und die Zeiten, in denen man einen Fuß vor die Tür setzen musste, um in den Genuss eines neuen Titels zu kommen, wirken ähnlich fern wie das Wählscheibentelefon und der Maschendrahtzaun. Der Wegfall von physischer Begleitlektüre führte jedoch gerade bei umfassenderen Titeln dazu, dass ein Spiel sich und seine Funktionsweisen plötzlich selbst erklären musste. Drücke X, um mehr zu erfahren.

Um dieser neuen Herausforderung beizukommen, wurde in vielen Fällen der Weg des geringsten Widerstands gewählt. Man baute eine Art Bedienungsanleitung direkt ins Spiel ein, die einem die Funktionen einzelner Tasten und Spielmechaniken erklären sollte. Diese eher pragmatische als elegante Lösung erfreut sich entwicklerseitig bis heute großer Beliebtheit und erfüllt in der Regel auch ihren Zweck, doch stellt sie insbesondere bei Titeln einen Fremdkörper dar, die ihren Fokus auf das Erzählerische und Atmosphärische legen. Ganz eklatant brach etwa erst vor kurzem Deus Ex: Mankind Divided mit dem eigentlichen Spielgeschehen, um mir zunächst zu erklären, was ich so alles anstellen kann. Mitten in eine gefährliche Mission geschmissen, werde ich mehrmals von eingeblendeten Texttafeln angehalten, die mir anbieten, das Schleichen und Schießen doch vielleicht besser erst einmal ohne die Angst vor den möglichen Konsequenzen bei Fehlschlägen auszuprobieren. Mein riskanter Einsatz in Dubai verwandelt sich hierdurch in Windeseile zu kleinschrittigem Nachhilfeunterricht für hinterherhängende Agentenwelpen, die von der Entwicklermama am Nackenfell durch die einzelnen Abschnitte gezogen werden, statt diese selbstständig entdecken zu können.

Deus Ex: Mankind Divided

Der Trend geht zum Bulimie-Lernen

So ganz stimmt das natürlich nicht. Das Ablehnen des Tutorial-Angebots ist auch in Mankind Divided eine Option, doch erscheint diese wenig ratsam, wenn man nicht mindestens den direkten Vorgänger gespielt hat. Zu umfangreich und unübersichtlich sind die Handlungs- und Steuerungswege, als dass sie sich durch bloßes Ausprobieren unmittelbar ergründen ließen. Genau aus diesem Grund ist es umso bedauerlicher, dass kein Weg gefunden (oder zumindest gesucht) wurde, eine nahtlose Einführung in das aufregende Leben des übermächtigen Maschinenmenschen Adam Jensen möglich zu machen. Wenn sich dieser erfahrene Superagent nach dem ersten adrenalingeschwängerten Einsatz am Schießstand wiederfindet und erst einmal minutiös erklären lassen muss, wie und mit welcher Munition er am besten die verschiedenen Ballermänner bedient, geht endgültig jegliche Bindung zum dargestellten Charakter und dessen tatsächlichen Herausforderungen verloren.

Es ist stets ein nur schwer zu bewältigender Balanceakt zwischen notwendiger und zu viel Information, der eine gelungene von einer missglückten Spieleinführung trennt. Der Helikoptereltern-Ansatz von Mankind Divided lehrt mich zwar sämtliche benötigten Schwimmbewegungen, doch wie ich mich am effektivsten über Wasser halte, lerne ich erst, als es mich endlich ins kalte Becken wirft.

Fast ertrunken wäre ich hingegen in Bloodborne, das oberflächlich betrachtet gar kein klassisches Tutorial aufweist. Ein massiver Trugschluss, der sich mir erst so richtig offenbarte, als das halbe Spiel schon hinter mir lag. Dem Action-RPG, wie auch der lieben Verwandtschaft aus der Souls-Reihe, liegt eine völlig andere Philosophie und Haltung zugrunde, wie dem Menschen vor dem Bildschirm das Meistern der vor ihm liegenden Unwägbarkeiten vermittelt werden soll. Es macht mir nichts vor, was ich nachahmen soll, es erklärt seine Mechaniken nicht aufdringlich, sondern gibt mir die Freiräume, sie für mich selbst zu entdecken und mir zu eigen zu machen. Doch allen voran ist es ein Titel, der sich meiner spielerischen Unwissenheit bedient und daraus seine größten Stärken zieht.

bloodborne

Learning by doing (it wrong)

Wenn das Scheitern und Sterben ein integraler Teil der Geschichte ist, so fällt es natürlich leichter auf explizite Hilfestellungen zu verzichten. Während in Mankind Divided die Maskerade des unbeugsamen Überhelden aufrechterhalten werden muss, kann es sich ein Titel wie Bloodborne durchaus erlauben, meinen Spielstil viel behutsamer zu formen und auf die unterschiedlichen Anforderungen hin anzugleichen. Das Zentrum von Yharnam bildet als Einstiegsgebiet bereits sämtliche Facetten des Spiels ab, die ich erlernen und begreifen muss, um auch in späteren Abschnitten bestehen zu können. Subtil werden unterschiedliche Gegnertypen, Fallen und Gegenstände eingeführt, die zeitgleich etwas über den Ort, an dem ich mich befinde, und dessen schaurige Hintergründe erzählen. Ein fließendes, obgleich auch vorsichtiges Kennenlernen, bei dem mir wiederholt dieselben Fragen gestellt werden, bis ich endlich die passenden Antworten gefunden habe.

Dies mag nicht für jeden ein idealer Einstieg sein und tatsächlich dürfte wohl kaum ein zweites, qualitativ ähnlich hochwertiges Spiel eine vergleichbar hohe Absprungrate während des ersten Spieldrittels aufweisen. Nichtsdestotrotz harmonisiert diese Form der Heranführung mit dem spielerischen und erzählerischen Fundament wie bei kaum einem anderen Titel der letzten Jahre. Eine Eigenschaft, der bedauernswerterweise oftmals eine möglichst allumfassende Zugänglichkeit zum Opfer fallen muss, weshalb auch das deutlich bequemere Modell eines Mankind Divided spürbar häufiger anzutreffen ist.

Eine goldene Regel für das perfekte Tutorial gibt es in dem Sinne also nicht. Zu unterschiedlich sind die Bedürfnisse von Spielerinnen und Spielern, zu individuell sind auch die Voraussetzungen, die jedes Spiel mit sich bringt. Für mich steht jedoch fest, dass mir eine Einleitung immer dann wirklich gut gefallen hat, wenn ich sie als solche gar nicht wahrgenommen habe. Wenn sie keine losgelöste, übergestülpte Notwendigkeit darstellte, sondern mich eingebettet in ihrer Spielwelt fließend zu einem Teil dieser machte. Etwas, das im Jahr 2000 dem ursprünglichen Deus Ex übrigens ganz vortrefflich gelang, noch bevor die Ära der Begleitbücher tatsächlich vorbei war. Dass sich 16 Jahre später Mankind Divided in jener Hinsicht wie ein Rückschritt anfühlt, wäre höchstens noch damit zu entschuldigen, dass es seinen Prequel-Status etwas zu wörtlich genommen hat. Doch letztlich ist gegen das Vergessen von bereits Gelerntem wohl einfach niemand gefeit.