Richter und Henker: Der Tod eines Avatars
Dass das US-amerikanische Entwicklerstudio ArenaNet durchaus eine zynische Ader besitzt, bewiesen sie bereits vor über 10 Jahren. Zum Ende der Beta-Phase ihres MMORPG-Hits Guild Wars sorgte damals ein junges Mädchen namens Gwen mit einem saftigen Meteorschauer dafür, dass alle Anwesenden in der Hauptstadt Löwenstein ihr virtuelles Leben verloren. Es war ein spektakuläres Schauspiel, bei dem niemand etwas verlor, was ihm nicht eh mit dem zur Veröffentlichung üblichen Charakter-Reset genommen worden wäre. Vor allem aber war es ein bitterböses Finale, das sich dennoch wunderbar in das fantasievolle Spielsetting mit seinem bisweilen schwarzfarbigen Humor einfügte. Ein weniger geschmacksicheres Lebensende wurde nun dem Spieleravatar namens DarkSide zuteil, der aufgrund eines akuten Betrugsverdachts im Nachfolger Guild Wars 2 öffentlich gedemütigt und hingerichtet wurde. Nicht etwa von seinen aufgebrachten Mitspielern, sondern vom Entwickler höchstpersönlich.
“We don’t need to see it in-game, sometimes good video evidence is enough for me to track down who it was. In this case, the video was enough for me to find out who it was and take action. Thanks for the video, and to accompany your video, I give you this video of his account’s last moments.”
(Chris Cleary)
Eigentlich wäre das keine bemerkenswerte Neuigkeit. Erwischte Schummlerinnen und Schummler werden in zahlreichen Online-Titeln längst nicht mehr nur mit der bloßen Verbannung vom Server bestraft, sondern öffentlichkeitswirksam sichtbar gemacht und in mal mehr, mal weniger kreativer Weise bloßgestellt. Einen möglichen Abschreckungseffekt versprach man sich nun sicher auch bei ArenaNet, als man dort die Kontrolle über die erwähnte, betrügerische Spielfigur übernahm, sie bis auf die Unterwäsche entkleidete und anschließend fröhlich winkend in den Abgrund springen ließ. Jeder sollte sehen, mit welcher Härte gegen unlauteres Spielen vorgegangen wird, auch auf die Gefahr hin offenzulegen, jederzeit Schindluder mit den Accounts der eigenen Kundschaft treiben zu können. Mehr als 1.250.000 Menschen sind mittlerweile Zeuge davon geworden, wie dabei jegliches Gespür für Verhältnismäßigkeit und den gesamtgesellschaftlichen Kontext verloren gegangen ist.
Was vielleicht auf den ersten Blick lustig und harmlos aussehen mag, ist dies nur, wenn man es als von der realen Welt isolierten Vorfall betrachtet. Doch das ist nicht so leicht bei einem Spiel, in dem hauptsächlich echte Menschen miteinander interagieren. Menschen, die, entgegen aller Klischees, durchaus etwas von ihrer physischen Umwelt mitbekommen und nicht im Virtuellen verharren. Sie wissen, dass öffentliche Exekutionen nicht nur zum mittelalterlichen Plot eines Schiller-Dramas gehören, sondern sich in vielen Regionen dieses Planeten erschreckender Popularität erfreuen. Und selbst wenn sie differenzieren können, selbst wenn sie einsehen, dass in einem Fantasy-Setting Platz für derlei düstere Gerechtigkeitsauslegung sein darf, so ist da dennoch die gewählte Art der Hinrichtung, die von einer erschütternden Blindheit gegenüber ihres Wirklichkeitsbezugs zeugt.
Denn was man zu sehen bekommt, ist nichts anderes als ein erzwungener Suizid. Die Spielfigur wird nicht von einem anderen Avatar oder NPC getötet, sondern springt aus scheinbar freien Stücken in den Tod, als sei dies die einzig logische Konsequenz für die Schuld, die sie auf sich geladen hat. Sicher muss relativiert werden, dass die gewählte Bestrafungsform bei den allermeisten Spielerinnen und Spielern keine weiteren Gedanken nach sich ziehen wird, doch wachsen viele von ihnen in einem gesellschaftlichen Klima auf, in dem Depressionserkrankungen und die Selbstmordrate seit etlichen Jahren stetig zunehmen. Es ist also nicht auszuschließen, dass sich jemand durch die Bilder und den rücksichtslosen Umgang mit ihrer Thematik in negativer Weise angesprochen fühlt, unabhängig von der Abstraktheit der Spielgrafik und der vermutlich humorvollen Intention. Ob nun absichtlich oder unbedacht, verharmlost ArenaNet mit solch einer Form der publikumsheischenden Demütigung die Bedeutung eines solchen Akts in jener Welt, die einem kalt ins Gesicht bläst, wenn man sich aus dem Scheinuniversum Tyrias ausgeloggt.
Ganz gleich, ob man nun ein Problem darin sieht oder nicht, ob es einen selbst betrifft oder man der Meinung ist, dass andere einfach nicht so dünnhäutig sein sollten, bleibt neben der Kritik an der Art der Bloßstellung zumindest die Erkenntnis, dass ArenaNet es schon einmal besser verstanden hat, Spielerinnen und Spieler unverhofft und kreativ ins Gras beißen zu lassen. Wenn sie jedoch die Bestrafung für Unfairness in einem Fantasy-Rollenspiel so fantasielos und nahbar umsetzen wie im aktuellen Fall, dürfen sie sich am Ende auch nicht darüber beschweren, wenn man genau diesen Punkt letztlich nicht mehr im reinen Spielekontext bewerten kann.