Raider heißen jetzt Twix. Sonst ändert sich nix.
Eine Frau sagt mir, was für ein hübscher Mann ich sei, nachdem ich mir eine 20cm lange Narbe quer über das Gesicht gezogen habe. Es ist meine Frau. Ich füge auch ihr eine hässliche Narbe zu und erwidere das Kompliment. Plötzlich Schreie. Es ist ein Säugling. Ich halte ihm den Zeigefinger hin und die Schreie hören auf. Ein Kind zu haben ist gar nicht so anstrengend, wie ich es mir vorgestellt habe. Mehr Zeit habe ich nicht für meinen Sohn, der laut dem Schwebeschriftzug über seiner Wiege Shaun heißt, denn es klingelt an der Tür. Ein Mann möchte mit mir etwas Vertragliches besprechen, während meine Frau wie ein Mantra wiederholt, wie perfekt unser Leben doch sei. Ich unterschreibe blind, schaue noch einmal nach meinem Kind und innerhalb von wenigen Minuten finde ich mich eingefroren in einem Bunker tief unter der Erde wieder. 200 Jahre später taue ich auf, Frau erschossen, Kind entführt, laufe zum Ausgang, die Sonne blendet und ein dunkles Klavier erklingt. Hallo, du wunderschöner Widerspruch. Hallo Fallout 4.
Sperrmüll-Gefühle
Der Fernsehsender Sat.1 bewarb 1998 den Auftakt der 4. Staffel von Hallo, Onkel Doc! mit einem Lied, das die Zeile „Du fährst einfach so nach Boston und lässt uns hier verrosten“ enthielt. Im Jahr 2287 sind nicht nur die vom Onkel Doc in Heidelberg zurückgelassenen Freunde verrostet, sondern auch die komplette Stadt Boston, dem Schauplatz des in Wahrheit bereits siebten Ablegers der Fallout-Reihe. Ein Atomkrieg ist eben schlecht für den Lack. Jener ist auch schnell von der erzählten Hauptgeschichte abgeplatzt, denn im neuen Ödland angekommen, wirkt nach der völlig überhasteten Einführung die Suche nach dem verlorenen Sohn wie eine lästige Pflichtaufgabe. In der Grenzenlosigkeit der Postapokalypse ist die Rolle des fürsorglichen Familienvaters keine, in die ich mich gerne drängen lasse. Hier gibt es so viel Ablenkung, so viele vermeintlich spannendere Geschichten zu entdecken, dass mir die eigene schon zu Beginn seltsam egal ist. Oh, hallo Hundi!
Turing-Test für Anfänger
Du bist ja ein Lieber! Kennst mich gar nicht, folgst mir aber dennoch aufs Wort und schleppst meine Power-Rüstung auf dem Rücken mit, während du wilden Ghulen die labberigen Gliedmaßen entreißt. Wer ist ein guter Junge? WER IST EIN GUTER JUNGE?! Ich schaue dem Hund hinterher und warte darauf, dass er kackt. Macht er nicht. Ich bin enttäuscht, schließlich ist es 2015 und in 2015 sollten Tiere in Open-World-Großproduktionen schon eine sichtbare Verdauung aufweisen. Immerhin ist das neue Dialogsystem den modernen Zeiten angepasst. Keine Zeit, halbe Romane zu lesen, Stichworte tun’s auch. Ja, Nein, Vielleicht, was ich auch wähle, am Ende landen auch Aufträge in meinem Logbuch, die ich gar nicht machen möchte. Und dort bleiben sie dann für immer. Ich entscheide mich für die sarkastische Gesprächsoption und belohne mich dafür mit einem Moneyboy-Video und einer Halbliterflasche Mate-Kola. Ironie ist schließlich die bequemste Masche, sich aus allem rauszuhalten.
Dabei wäre ich doch so gerne involviert. In die Schicksale der Ödlandbewohner oder wenigstens in mein eigenes. Aber das fällt mir unheimlich schwer, wenn diese Schicksale stets mit einem Töte-Dies oder Sammel-Das verknüpft werden und sich so dermaßen stapeln, dass jedes zu einem abzuhakenden Punkt auf einer endlosen To-Do-Liste verkommt. Zwischendurch treffe ich zwar immer wieder auf äußerst skurrile und überdrehte Charaktere, doch deren Überzeichnung ist in gewisser Weise auch ein Tribut an die Flüchtigkeit jedweder Emotionalität und Glaubwürdigkeit in diesem komplett durchkonstruierten Universum. Es ist eine eindrucksvolle und einschüchternde Spielwelt, deren Imposanz sich für mich jedoch durch zahllose Ungereimtheiten und Fehler schneller relativiert als erwartet. Weil es eine Welt ist, in der ich als besorgter Familenvater nach 200 Jahren Kälteschlaf mit einer Minigun Köpfe zum Platzen bringe, futuristische Computerterminals hacke und genau dann als besonders charismatisch gelte, wenn ich anderen mit gezogener Waffe meinen Willen aufzwinge. Auch ein kleiner Geheimtipp fürs nächste Bewerbungsgespräch, ruhig mal ausprobieren!
Offizieller Trailer
Fallout 4 wirkt in einem Jahr, in dem auch ein Spiel wie The Witcher 3 erschienen ist, ziemlich aus der Zeit gefallen. Es begreift seine offene Welt als eine Art Freizeitpark, in dem es keinen Leerlauf und um Himmels willen bloß keine Zeit zum Nachdenken geben darf, während nachhaltige Eindrücke rar gesät sind. Schuld daran ist nicht zuletzt auch das neue (Mine-)Crafting-System, das mich zu einer Art wandelnden Recyclinghof werden lässt, der fortan jeden noch so nutzlos wirkenden Tinnef in seine Backentaschen stopft, um daraus später minimal brauchbareren Tinnef zaubern zu können. Kombiniert mit den bekannten Altlasten eines völlig unübersichtlichen Inventarsystems, gehe ich alter Packesel alle fünf Minuten in die Knie, bis ich den Lego-Modus schließlich komplett ignoriere und mir höchstens von Zeit zu Zeit eine Maulwurfsratte grille. Nur manchmal, wenn ich doch aus Versehen in den Baumodus wechsele, kann ich im Hintergrund leise Gronkh lachen hören.
Sowieso wirkt das Crafting auf mich deplatziert, bin ich doch ursprünglich aufgebrochen, um meinen entführten Sohn zu finden und zu befreien. Stundenlang Siedlungen abzureißen und neu aufzubauen wirkt da wie der endgültige Todesschuss jedweder Handlungslogik. Und auch die Gespräche mit meiner Begleiterin geraten zunehmend amateurpornohaft, wenn sie mir die Geschichte eines verstorbenen Familienmitglieds offenbart, ich ihr als Reaktion darauf einen banalen Anmachspruch reindrücke und wir uns seitdem bei jeder Rast auf versifften Matratzen die allgegenwärtige Ödnis wegknattern. Shaun (zur Erinnerung: Das war der Name des gesuchten Kindes) ist zu diesem Zeitpunkt vermutlich längst tot. Aber wer hat schließlich schon Zeit für Kinder, wenn er sich in Zeitlupe den Blutwolkenregen seiner Gegner auf den prall gefüllten Müllsack rieseln lassen kann?
Raider, Supermutanten, Ghule – sie alle enden früher oder später in einem roten Fleischberg, den ich nach noch mehr Schrott durchwühlen kann. Ein schier endloser Zyklus, der mich wie eine Laborratte immer wieder in den schimmligen Käse beißen lässt, ganz gleich, wie viele Elektroschocks ich in Form von haarsträubenden Fehlern im Spiel auch erleide. Und die sind – Bethesda-typisch – erneut zahlreich, aber – Spielepresse–typisch – irgendwie abermals nicht der Rede wert. Weil alles, was in diesem Spiel nicht funktioniert, am Ende ein unbegreiflich gut funktionierendes Spiel zu Tage fördert. Widerspruch als Erfolgsrezept. Ich kann mich nicht mehr lösen. Fallout 4 ist ein fantastisches Spiel. Ich habe nur nicht den blassesten Schimmer warum.