The Witcher 3: Wild Hunt – Alte Zöpfe
Seit 15 Stunden bin ich auf der Suche. Ich habe alles aufmerksam verfolgt – die Verheißungen, die Bilder, die Videos. Erwachsenenunterhaltung sollte es sein, ganz wie früher in der Videothek, nur ohne den schambehafteten Weg an die Theke. The Witcher 3: Wild Hunt umgab im Vorfeld seiner Veröffentlichung eine fast schon unwiderstehliche, hocherotische Aura, die lüstern durch zahlreiche Newsmeldungen und Klickvieh-Artikel kroch. Doch jetzt, nach all der Zeit der unverhofften Enthaltsamkeit, ist davon nicht viel übrig geblieben. Vielmehr steht der dritte Teil der Hexer-Sage stellvertretend dafür, dass der USK-Sticker auf einer Spielepackung noch lange nichts über die tatsächliche Reife deren Inhalts aussagen muss.
Dabei gibt man sich bei der Witcher-Reihe seit jeher deutlich mehr Mühe, mündige Geschichten, Charaktere und Schauplätze auszuarbeiten, als man es von anderen Titeln gleicher Alterseinstufung her kennt. Und das sicher nicht nur, was das Thema Sex betrifft. Sie weicht ab von einer klaren Schwarzweiß-Zeichnung seiner Figuren, bietet für ein Fantasy-Setting eine überraschende Bandbreite an angeschnittenen Themen und instrumentalisiert seine explizite Gewaltdarstellung nicht als unplausiblen Reizpunkt, sondern nutzt sie als adäquate Unterstreichung seiner harschen Mittelalterkulisse. Und wurde intimen Handlungen in den Vorgängern noch ähnlich stilvoll begegnet, wie in einem 70er-Jahre Softporno mit Peter Steiner, inklusive frivoler Eroberungskärtchen, so sind diese im dritten Ableger zumindest punktueller und besser in die Gesamthandlung eingebettet. Gut, nach wie vor wird ein äußerst männlicher Blick auf Sexualität geworfen, manch ein Kameraschwenk wirkt äußerst verschämt, pseudohumoreske Einlagen entkräften die kurzen Phasen von Intimität und der Akt an sich hat meist einen rein belohnenden Charakter für männliche Spieler – also eigentlich ist alles Sexuelle im Spiel abermals furchtbar. Aber das ist nicht das Hauptproblem.
Dieses liegt vielmehr in dem spielerischen Fundament, das seit mehr als einer Dekade nahezu unverändert den meisten westlichen Open-World-Rollenspielen zugrunde liegt. The Witcher 3 ist in vielen Belangen einer der konventionellsten Vertreter des Genres, was sein Streben nach erwachsenerem Storytelling mitunter komplett untergräbt. Geschichten schaffen es nur zu berühren, wenn sie glaubhaft inszeniert werden. Einem verarmten Händler sein gestohlenes Hab und Gut wiederzubeschaffen und anschließend ohne negatives Feedback dessen Hütte vor seinen Augen auszurauben, funktioniert in diesem Sinne nicht. Sich auf die Suche nach der verschollenen Tochter zu machen und währenddessen an jeder Ecke anzuhalten, um Blümchen zu pflücken oder mehreren Dutzend Nebenbeschäftigungen nachzugehen, funktioniert in diesem Sinne nicht. Die gewonnene Erfahrung aus einem Kampf gegen ein Rudel Wölfe für die Verbesserung seiner Gesprächsfertigkeit oder das Tränkebrauen verwenden zu können, funktioniert in diesem Sinne nicht. Diese Arten der ludonarrativen Dissonanz mögen in weniger storyfokussierten Titeln eine penible Randnotiz sein, doch sind sie in einem Spiel, das so viel Aufwand für die Erschaffung einer nachvollziehbaren und detailversessenen Welt betreibt, ruinös.
“Thank you, Geralt. For this…and for what you said at the port.”
Denn was bringt es den Spielerinnen und Spielern, wenn sämtliche Spielmechaniken der vorgegaukelten Dringlichkeit der erzählten Geschichten widersprechen? Natürlich wird niemand dazu gezwungen, Häuser leerzuräumen, Pilze zu sammeln oder eine dämliche Ziege wieder einzufangen. Dies wird einem lediglich nahegelegt, um genügend Ausrüstung und das entsprechende Charakterlevel für ein möglichst reibungsarmes Vorankommen bei der Haupthandlung zu erreichen. Bekannte Rollenspielzöpfe also, die längst abgeschnitten gehören, doch stattdessen trägt der Hexer diese mit Stolz zur Schau, wahrscheinlich nicht zuletzt auch, um Nvidias HairWorks-Technologie zu promoten. Wenn man dennoch das Glück hat und in der massiven Questflut nicht ertrinkt, kommen von Zeit zu Zeit einige Perlen an die Oberfläche, wie die Geschichte um den Baron, die gleichzeitig Alkoholismus, Eifersucht, häusliche Gewalt und eine Fehlgeburt thematisiert. Ein unheimlich komplexes Gebilde, das letztlich jedoch so oberflächlich abgefrühstückt wird, dass es einem weder nahe geht, noch vom Plündern der royalen Gemächer abhält.
Selbstverständlich ist es aller Ehren wert, dass sich eine solch populäre Spielreihe auch an sperrige Themen herantastet. Doch umso bedauerlicher ist es, wenn sie bei der ersten Berührung die Hand wieder einzieht und damit lieber die Karten beim Gwent austeilt. Ehe man sich’s versieht, wird nach einer Reihe hölzerner Dialoge die ernste Thematik mit dem üblichen Fantasyquatsch, wie Mitternachtsritualen und Geisterbeschwörungen, entwertet. Stets erzählt einem dabei nicht die vermutlich optisch grandioseste Spielwelt, die ein Rollenspiel je hervorgebracht hat, was in ihr vor sich geht und vor sich gegangen ist, sondern jedes Detail wird einem müde vorgekaut. Besonders der Einsatz der Hexersinne, die jedes Mysterium in Sekundenschnelle zu entzaubern wissen, kommt dabei eher dem Schauen eines Fernsehkrimis gleich, als einer aktiven Suche nach Hintergründen und Erklärungen. Der Protagonist erzählt einem monologisch haarklein, was er sieht und was es bedeutet, und da macht es, ähnlich wie bei dem bekannten TV-Format, auch keinen Unterschied, ob es nun CSI: Nilfgaard oder CSI: Oxenfurt ist – wirklich ernst nehmen kann man das alles nicht. Nicht zuletzt auch, weil man sich selbst nicht ernstgenommen fühlt.
“Sometimes miscarried fetuses, if they don’t get a proper burial, turn into botchlings.”
The Witcher 3 erstickt so an seinem eigenen Größenwahn, der zwar verkaufsfördernd sein mag, aber sich mit jedweder tiefergehenden Auseinandersetzung beißt. So viele Themen werden angesprochen, so wenige von ihnen wirklich ausformuliert. Der Status von Homosexuellen wird in zwei Sätzen abgehandelt, Rassismus erlebt man vorwiegend gegenüber der Hauptfigur, deren Übermacht und Einschüchterungspotenzial jedoch wenig davon zu ihr durchlässt, weil Ausgrenzung nun einmal nach unten besser funktioniert als nach oben. Die derbere Sprache mag zuweilen stimmig sein, doch wenn der Hexer im Kampf einer auferstandenen Wasserleiche erklärt, wie hässlich sie doch sei, klingt das eher wie ein Pausenhofdisput an der Rütli-Schule. Und auch wenn die Frauenfiguren vielfältiger und selbstbestimmter sind, als von Kotaku oder Polygon behauptet, am Ende sind sie dennoch nur Trabanten, die in einem Orbit um immer denselben, geilen Typen kreisen, der sie einsammelt wie Teilnehmerurkunden bei den Bundesjugendspielen.
Letztlich ist der namensgebende Hexer genauso doppelbödig, wie das Spiel selbst. Auf der einen Seite selbstgerecht, moralisch im absoluten Graubereich und undurchsichtig, auf der anderen Seite Retter der Schwachen, sorgender Vater und zumeist fremdgesteuert. Ein Titel, der sich an pubertäre Rollenspielkonzepte klammert und damit vergeblich versucht, erwachsene Inhalte zu transportieren. Ein Titel, der sich nicht festlegt, da er am liebsten alles auf einmal will. Ein Titel, der genau deshalb an den Kassen funktioniert, weil die breite Käuferschaft dasselbe begehrt. Am besten mit noch besserer Grafik und Analverkehr. The Witcher 3: Wild Hunt ist ein Rollenspiel für Erwachsene. Aber es ist mitnichten ein erwachsenes Rollenspiel.