Böse währt am längsten.
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Bis kurz vor seiner Veröffentlichung war Tyranny ein Fantasy-Rollenspiel mit der eher spärlich genutzten Prämisse, einmal den Bösen zu spielen. Jetzt, wo ein anthropomorpher Erdnussflip mit Dackelhaartoupet die Finger am roten Knöpfchen des atomaren Super-GAUs und sich zum Chef der Weltpolizei aufgeschwungen hat, ist es fast schon Science-Fiction. Denn ich kann mir Donald Trump als unerbittlichen, mysteriösen Tyrannen Kyros fast schon bildlich vorstellen – und Feuerwaffen und fortgeschrittene Technik werden nach ein paar nervösen Zeigefingerzuckungen zu viel seitens “The Donald” immerhin auch keine große Rolle mehr spielen.
Insofern passt eine derartige dystopische Vision gut in das Sword-&-Sorcery-Universum von Tyranny. Darin schlüpfe in die Rolle eines sogenannten Schicksalsbinders. Dabei handelt es sich um einen reisenden Richter und Vollstrecker, der die Edikte genannten magischen Strafen von Kyros ausruft und in Einzelfällen auch wieder aufheben kann. Als Schicksalsbinder bin ich dem Archon der Gerechtigkeit Tunon unterstellt, der mich auch auf die Mission schickt, mit der Tyranny nach einer enorm komplexen Charaktererstellung beginnt. Tunon ist einer von zahlreichen Archonten, ehemals normalen Menschen, die durch herausragende Taten oder einfach nur Zufall mit einer besonderen Macht versehen werden. Zentral für meine persönliche Geschichte sind dabei besonders zwei: Graven Ashe, der Archon des Krieges, und seine kleine aber bedingungslos loyale Armee der Geschmähten, sowie der Archon der Geheimnisse, die Stimmen Nerats, der dem aus Mördern, Dieben und versklavten Aufständischen zusammengesetzten Scharlachroten Chor vorsteht. Damit ist auch der aus klassischen Pen-&-Paper-Rollenspielen bekannte Gesinnungs-Rahmen gesetzt, in dem ich mich aus moralischer Sicht bewege: Im Laufe des ersten Akts muss ich mich entweder auf die Seite der rechtschaffen bösen Geschmähten oder des chaotisch bösen Chors schlagen. Je nach gewählter Fraktion ändert sich der Verlauf eines Großteils des Spiels. Gemein bleibt beiden Pfaden, die im späteren Verlauf noch weitere, fraktionsunabhängige Abzweigungen nehmen können, die Suche nach magischen Türmen. Diese beherbergen eine uralte Macht, die nur ich als Schicksalsbinder entschlüsseln kann.
Das zugrundeliegende Spielsystem gleicht dabei dem durch Kickstarter finanzierten, spirituellen Vorgänger Pillars Of Eternity, der sich seinerseits an den komplexen, textlastigen Rollenspielen der Marke Baldur’s Gate orientiert. Durch das Erledigen von Quests und Töten von Gegnern erhalte ich Erfahrungspunkte. Nach einem Stufenaufstieg verteile ich je einen Punkt auf Attribute wie Konstitution oder Genauigkeit, sowie auf Fähigkeiten in unterschiedlichen Fertigkeitsbäumen. Dabei ist Tyranny wie auch seine Vorgänger als Party-RPG ausgelegt. Relativ früh treffe ich die flinke, rotzfreche Bogenschützin Verse, den in seiner eisernen Rüstung gefangenen Kraftprotz Barik und den magisch begabten Weisen Lantry, die den Kern meiner Party darstellen. Obschon ich nur drei Begleiter gleichzeitig mitnehmen kann, kann ich im Laufe der Geschichte noch weitere Charaktere rekrutieren. Wie auch ich selbst können diese Erfahrung dazugewinnen und neue Fertigkeiten erlernen. Bereits auf dem normalen Schwierigkeitsgrad wird es mit fortschreitendem Spielverlauf wichtiger, in den Kämpfen klug mit den Talenten meiner Begleiter zu taktieren. Gerade Genreneulinge dürften sich an die fehlenden Handreichungen erst einmal gewöhnen müssen.
Abseits der planungsintensiven Kämpfe, in denen die Mitglieder meiner Party lediglich die Rollen von richtig einzusetzenden Schachfiguren einnehmen, entpuppen sich diese im Gespräch als erstaunlich plastische Figuren. Zwar muss ich mich auf dem Weg zu dieser Erkenntnis durch schier endlose Textwüsten klicken. Das Ergebnis ist allerdings eine stärkere Bindung an meine Begleiter und zugleich eine Lehrstunde in der Geschichte der mehr als komplexen Spielwelt Terratus. Manche Gesprächsoptionen kann ich nur nach einem Fertigkeits- oder Reputationscheck freischalten. Letztere teilt sich wiederum in die Teilbereiche Loyalität und Angst auf, die ich auf unterschiedliche Art und Weise steigern kann. Ab einem bestimmten erreichten Grad werden zudem besonders starke Kombo-Fähigkeiten freigeschaltet, die oft aussichtlos wirkende Kämpfe doch noch zu meinen Gunsten entscheiden können. Eine ähnliche Reputationsskala bestimmt meine Interaktion mit den verschiedenen Fraktionen des Spiels, wobei diese in Gunst und Zorn aufgeteilt ist. Da ich in Tyranny, egal, wie rechtschaffen meine Aktionen wirken mögen, immer auf der Seite der Bösen stehe, ist es nahezu unmöglich, mich bei den unterdrückten Bewohnern der Stufenländer beliebt zu machen. Eine Tatsache, die mir das Spiel immer wieder genüsslich vorführt, wenn ich beispielsweise nur die Wahl habe, einen Gefangenen umzubringen oder ihn in die Ränge des Scharlachroten Chors zu verweisen – was ein ähnliches Ergebnis zur Folge hat.
Die fordernden Kämpfe, die vielschichtige Story und das stellenweise etwas lästige Mikromanagement meiner Türme fesseln mich zahllose Stunden an den Bildschirm. Richtig interessant wird Tyranny allerdings erst, wenn man sich die Mühe gibt, tiefer in die Kultur der Stufenlande einzutauchen. Die Epoche, in der das Fantasy-RPG spielt, ist zwar grob am Übergang zwischen der reellen Bronze- und Eisenzeit anzusiedeln, die Gesellschaft an sich ist jedoch erstaunlich progressiv. Kyros selbst wird von verschiedenen Charakteren sowohl als „er“ und „sie“ bezeichnet, Frauen sind in den südlichen Reichen die einzigen, die Land besitzen dürfen, und auch gleichgeschlechtliche Beziehungen sind normal und mit keinerlei Stigma oder Makel behaftet. Selbst das Gesetz des Tyrannen ist hart, unnachgiebig, aber nicht gegenüber unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen diskriminierend, ebenso wie in den Rängen der Armeen jeder Soldat jede Position besetzen kann.
Zumindest in dieser Hinsicht unterscheidet sich die stellenweise recht trostlose Welt von Tyranny von der, die uns vielleicht mit einem US-Präsidenten wie Donald Trump bevorsteht. Ein Stück weit empfinde ich sogar Sympathie für einige der schlimmsten Charaktere des Spiels. Vielleicht, weil sie bei aller fragwürdiger Motivation doch noch wie Figuren mit emotionaler Tiefe und nicht wie schwarz-weiße Abziehbilder wirken. Das Böse mag in Tyranny viele Formen annehmen, lässt sich aber immer in ein nachvollziehbares Raster einordnen und generiert einen interessanten Kontrast zu den ansonsten oftmals comichaft überzeichneten Garstigkeitssimulatoren wie Dungeon Keeper oder Overlord. Möglicherweise ist das auch der Grund, warum mir meine Entscheidungen auf der Reise durch Terratus abseits der virtuellen Spielwiese zwar grundlegend gegen den Strich gehen, ich aber dennoch immer wieder gerne in den Schoß von Kyros zurückkehre.