Blast from the Past: Diablo

Es gibt Spiele, die sind Allegorien für die eigene Jugend. Auch wenn keines der Dörfer, in denen ich aufwuchs, von einer Horde Monster heimgesucht wurde und Magie für immer Fantasie bleibt, ist Diablo bezeichnend für meine Jugend. Die Story beschreibt die Verderbnis einer friedlichen Welt und genau das tat Diablo mit meinem arglosen Weltbild. Was genau Diablo also für mich war und bis heute ist, ist vor allem eine Veränderung.

Das Setting beeindruckt mich bis heute. Die Kathedrale ist dunkel und wie ein Labyrinth, was die Situation im Spiel noch brisanter macht. Ehrfürchtig begab ich mich hinein, um das einst heilige Gebäude zu bestaunen und, noch viel wichtiger, die Dorfbewohner vor den Kreaturen zu retten, die das Gebäude heimsuchen. Als ich das erste Mal die Stufen hinab stieg und sah, was mich dort erwartete, war ich gebannt. Es ging immer weiter nach unten, vermutlich der Fratze auf dem Cover entgegen. Zugegeben, aus dem Alter, in dem Monster im Schrank lauern, war ich eigentlich raus, aber Clowns und jegliche Art von Monstern dürfen in jedem Alter Angst machen. Insbesondere dann, wenn sie in eine Kathedrale eingefallen sind und dort Gott-weiß-was tun. An dieser Stelle sei gesagt, dass meine Erziehung bis zu einem gewissen Zeitpunkt recht konservativ und sogar christlich war: Neben Märchenbüchern stand eine Kinderbibel im Regal, ich hatte durchaus die ein oder andere Kirche von innen betrachten dürfen und auch abseits des alljährlichen Krippenspiels in unserer dörflichen Kirche wurde das Thema Religion ernst genommen. Mit der Pubertät – und genau zwischen dieser Zeit der Unschuld und Freiheit liegt meine Erfahrung mit Diablo – kam die Autarkie und meinen Eltern schien es nicht mehr möglich, mit meinen vielen neuen Interessen mitzuhalten und meinen Medienkonsum zu kontrollieren, weshalb ich eines Tages Diablo entdeckte.

Bereits auf der zweiten Ebene der Kathedrale fand ich den Schlächter. Während andere Kinder Angst vor Monstern unter ihren Betten oder der Märchenhexe hatten, war er mein verspäteter Schrecken der Kindheit. Er „lebt“ (möglicherweise entspricht „lauern” eher der Situation) in einem Verlies, in dem Menschen auf Spießen verenden. Er wird erst sichtbar, sobald die Tür geöffnet wird, seine tiefe Stimme dröhnt durch die Lautsprecher bis ins Kinderzimmer und dann schlitzt er Spielende mit seinem Beil auf. Nie war ich schockierter angesichts eines fiktiven Gegners und so machte er mich in gleich zweifacher Hinsicht fertig. Natürlich war ich nicht auf einen Zwischenboss vorbereitet und starb – Gegenstände zu horten, anstatt sie anzulegen, stellte sich als unkluge Entscheidung heraus. Die Tatsache, dass sich jemand dieses Monster ausgedacht hatte, empfand ich als mindestens ebenso skandalös wie die Kathedrale als Setting. Horrorfilme durfte ich zu dem Zeitpunkt noch nicht gucken (und genau genommen durfte ich wohl auch Diablo noch nicht spielen). Entsprechend meiner Unschuld war der Schlächter schrecklicher als meine Vorstellungskraft es zu erfassen vermochte und Albtraummaterial war entstanden. Erst viele Jahre später löste Es den Schlächter ab.

Wir spielten Diablo meist im lokalen Multiplayer. „Wir“ sind in diesem Fall ein Freund, der mich überhaupt erst zum Spielen gebracht hat, und ich. Wir spielten alles zusammen, wechselten uns ab und teilten Aufgaben so, dass sich jeder seiner Stärken entsprechend nützlich machen konnte. Meist lief es darauf hinaus, dass er steuerte und Gegner tötete und ich Rätsel löste und den Überblick behielt. Selbstverständlich war ich als Jägerin unterwegs, ein männlicher Charakter kam schon aus Prinzip nicht in Frage. Wir haben es auf der Playstation gespielt – offensichtlich ein Sakrileg, was mir erst später bewusst wurde, aber trotzdem egal war. Der mangelnde Zugang zum Medium gepaart mit kindlichem Durchhaltevermögen und Neugier sorgten dafür, dass ein Spiel bis zum Zerkratzen der CD gespielt wurde. Es gab immer neue Geheimnisse, die entdeckt werden wollten, noch eine Runde, die besser gespielt werden konnte, als die vorangegangenen.

Ein ungeahntes Maß an Geduld erlaubte uns, die ersten Ebenen immer und immer wieder zu spielen. Einige kleine Tricks mit den Memory Cards bescherten uns mehr Geld, als unser Inventar aufnehmen konnte und trotzdem trauten wir uns selten tiefer in die Katakomben. Diese Abneigung und Faszination gegenüber Horrorspielen verfolgt mich bis heute. Der Reiz lag schon damals darin, neue Welten zu erkunden, das Unmögliche wahr werden zu lassen und in die Rolle jemand anderes zu schlüpfen – nicht nur in der eigenen Fantasie, sondern auch sichtbar auf einem Bildschirm. Ohne Internet und Freunde, die überhaupt von der Existenz dieses Mediums wussten, wurde das Spiel noch geheimnisvoller. Wir hatten keine Guides und stellten Mutmaßungen über die Dorfbewohner an. Die Protagonisten selbst und die Geschehnisse in der Kathedrale blieben lange ein Rätsel für uns, sodass das Spiel in unseren Erinnerungen noch sibyllenhafter und verwegener erscheint, als es tatsächlich ist. Dialoge, die Sachverhalte und Zusammenhänge hätten erklären können, waren für Menschen mit Zeit und unsere Fernsehzeit, also die Zeit, die wir vor dem Fernseher an der Playstation verbringen konnten, war beschränkt. So war es an uns, die Geschichte zu erzählen und unsere Fantasie die Lücken füllen zu lassen.

Trotz mehrfachen Zögerns trauten wir uns irgendwann in die Tiefen des Spiels. In den unteren Ebenen wartete Lava, die meine mittelalterliche Vorstellung von der Hölle bestätigte. Inmitten der grellen Masse lauerten so genannte Obsidian Lords, zweibeinige Kreaturen mit einem Horn auf dem Kopf. Kindliche Assoziationen verbanden die Zentauren-Einhorn-Mischung auf zwei Beinen mit Freundlichkeit und der Vertrautheit eines Fabelwesens. Doch wie zuvor die depravierte Kathedrale, wurde meine Vorstellung von freundlichen Kreaturen zunichte gemacht. Noch schlimmer traf es mich mit den Engeln. So nannten wir sie, heute weiß ich, dass es Sukkuben sind, doch jedes weibliche, menschenartige Geschöpf mit großen Flügeln war entweder eine Fee oder ein Engel – Märchenbuch und Kinderbibel sei Dank. Sie schießen aus der Distanz und fliehen, wenn der Spieler näher kommt. Ich kann gar nicht rekonstruieren, wie oft wir dort unten gestorben sind. Das Spiel pervertierte meine unschuldigen Vorstellungen von der Welt. Generell stellte Diablo meine subtil konservative Erziehung auf die Probe. Die Kathedrale, die drohend in den Himmel ragte und die dunkle, unheilvolle Atmosphäre, die das Spiel vermittelte, ganz zu schweigen von den retrospektiv betrachtet belanglosen Nebenquests, die das Übel der Welt noch verdeutlichten – Diablo war faszinierend, weil es vollkommen anders war als meine eigene Realität.

Das prägnanteste an Diablo bleibt trotz der einschneidenden Begegnung mit dem Schlächter und den antagonistischen Wesen das Lied des Dorfes. Tristram wurde fast gänzlich ausgelöscht, nie scheint die Sonne und selbst hier, an der Oberfläche, ist die Präsenz des Bösen spürbar. Gleichzeitig spielt das unverwechselbare Lied, das einen starken Kontrast zu den bedrohlichen Tönen der Kathedrale bildet, die sich vor allem durch Perkussion, schrille Synthesizer und mächtig erscheinende Streichinstrumente auszeichnen. Das Motiv verheißt Sicherheit; obwohl es das Unheil außerhalb des Dorfes erahnen lässt, werden die Klänge zu einem Synonym für Zuflucht. Wenn mitten im Gefecht die Heiltränke ausgehen und nur ein Portal die Rettung ist, gibt es nichts schöneres als sich in das Dorf zu retten und zu wissen, dass hierhin nichts Böses folgen kann. Genau dieses Gefühl der Erleichterung überkommt mich, sobald ich die ersten Töne höre. Wieder zeigt sich, wie konträr die Erinnerung an Diablo ist.

Kindheitsängste wurden überwunden und viele Elemente gerieten in Vergessenheit, bis ich mich für diesen Artikel erinnerte. Heute wirkt vieles, nicht zuletzt wegen der überholten Grafik, weniger bedrohlich, wenn nicht sogar harmlos. Analog zum beschriebenen Erlebnis der Protagonisten, die zwischen friedlichem Dorf und gefährlicher Unterwelt wechseln, veränderte sich meine Einstellung zum Spiel. Einerseits hatte ich Angst vor dem Schlächter und den zahlreichen Monstern, die einen scheinbar sicheren Ort heimsuchten, andererseits konnte ich das Abenteuer mit einem guten Freund bestreiten und verbinde mit dem Spiel vor allem meine Jugend, bevor der Ernst des Lebens mich einholte. Wenn ich heute an Diablo denke, ist mir weniger das Gameplay in Erinnerung geblieben als die Umstände, unter denen ich es spielte und die Gefühle, die ich damit assoziiere: Erinnerungen an einen Freund, der heute nicht mehr Teil meines Lebens ist; Erinnerungen an die vielen Emotionen, die das Spiel auslöste; Erinnerungen an eine eigentlich nur unterschwellig religiöse Kindheit voller Naivität und Glückseligkeit. Eine Welt, in der der Schlächter die größte Gefahr darstellte und das einzige Übel in der Welt zu sein schien.