Gedankenspiele: Über die Kunst des Verlernens

Letztens setzte ich mich nach zweijähriger Abstinenz wieder auf ein Fahrrad und kippte sofort um. Anschließend spielte ich mit eingegipsten Beinen die Beta von Quake Champions und belegte immerhin direkt den zweiten Platz in meiner ersten Runde, nachdem ich eine gefühlte Ewigkeit den Vorgänger nicht mehr angerührt hatte. Zum Glück gibt es eben doch Sachen, die man einfach nicht mehr verlernt!

Mittlerweile lässt sich das Gefühl der Vertrautheit auch auf zahlreiche andere frisch erschienene Spiele übertragen. Genre und Entwicklerstudio sind dabei zweitrangig, denn trotz einer unüberschaubaren Masse an Titeln und Möglichkeiten kann ich mich in der Regel darauf verlassen, dass sich alles aus dem immer gleichen Gaming-Alphabet zusammensetzt. Mit der X-Taste kann ich springen, mit den Triggertasten schießen und meine Paypal-Daten werden längst automatisch ausgefüllt, wenn ich das Haus meiner Sims in eine Drehlocation für ein Musikvideo von Katy Perry verwandeln will. Dieser unausgesprochene Konsens über Tastenbelegungen und erprobte Spielmechaniken lässt einen neuen Titel unverhofft heimelig erscheinen, weil das gut trainierte Muskelgedächtnis keine neuen Dinge hinzulernen muss. Das mag kurzfristig gesehen eine äußerst bequeme und begrüßenswerte Eigenschaft sein, auf Dauer verlernt das so geschonte Gehirn jedoch dazuzulernen. Es entwickelt Scheuklappenautomatismen, die nichts Ungewohntes und Mühseliges hindurch lassen sollen. Und so ist ein optisch opulenter Titel wie Horizon Zero Dawn am Ende auch nicht mehr als das spielerische Äquivalent einer Doppelhaushälfte am Rande einer idyllischen Kleinstadt, deren Bahnhofsanschluss noch eingleisig ist: Sicher, unaufgeregt und die AfD liegt in den Umfragen bei 15 Prozent.

Selbstironische Bildschirmeinblendungen.

Je weniger Veränderung wir in unserem Alltag begegnen, desto weniger sind wir auch dazu bereit, diese nicht nur anzunehmen, sondern sie als Chance zur Weiterentwicklung zu begreifen und zu begrüßen. Dieser Eindruck manifestiert sich nicht nur in der offensichtlichen Form des politischen Klimas, sondern auch in Adele-Songs, die 25 Mal am Tag auf Radio Hamburg laufen oder eben dem Freilegen von Karteninformationen, indem man auf etwas Hohes in einem Ubisoftspiel klettert. Ein Spiel, das man zunächst erklären muss, hat einen ungleich schwierigeren Start als das beständige Fortführen von Klischee-Mechaniken.

Über diese Unwägbarkeiten hinweg setzte sich vor mittlerweile acht Jahren Demon’s Souls, das eigentlich nicht viel mehr als der Dosenöffner für die Sehnsucht nach dem Ausbruch aus dem Teufelskreis des Bewährten war. Ein Spiel, das man von Grund auf neu erlernen musste, weil es allem widersprach, was zu seiner Zeit en vogue war. Doch wie schnell sich eine neue Reihe an den selbstgesetzten Standards reiben kann, wurde bereits mit der Veröffentlichung des zweiten Teils von Dark Souls offenbar, das kein gesondertes Interesse daran zeigte, die liebgewonnene Spielweise vieler Fans des ersten Teils weiter zu bedienen. Auch ich tat mich anfangs schwer damit, meine eigene Spielweise umzustellen, weil ich es einfach nicht gewohnt war, erlernte Muster wieder zu verlernen. Eine Notwendigkeit, die From Software mit Bloodborne schließlich auf die Spitze trieb, nur um mit dem letztjährigen Ende der Souls-Reihe doch lieber wieder auf Nummer sicher zu gehen. Irgendwann sehnt sich halt jeder nach ein wenig Stabilität und zieht lieber in den muckeligen Speckgürtel als sich den Stress der Großstadt weiter zu geben.

Das Risiko ist aber auch zugegebenermaßen unwahrscheinlich hoch, dass man mit dem Bruch der Erwartungshaltung auf wenig Gegenliebe stößt und somit lieber auf Bewährtes setzen sollte. Veränderung ist etwas, das zwar gern gefordert wird, doch selten wirklich gewollt ist, weil sie zu viel Spielraum für mögliche Verschlechterungen lässt. Dabei ist das, was als Verschlechterung wahrgenommen wird, oftmals nicht mehr als ein Indiz für die mangelnde Bereitschaft und die eigene Unfähigkeit, sich einer neuen Situation anzupassen. Ein Spiel wie Dark Souls zu erlernen bedeutet stundenlange, harte Arbeit. Wenn mir dessen Nachfolger dann sagt, dass ich diese bitte noch einmal neu machen soll, ist das zwar erst einmal ein ziemlicher Schlag in den Nacken, aber eben auch eine dieser seltenen Einladungen, innerhalb eines offenbar feststehenden Spielekosmos die eigenen Grenzen zu erweitern. Es kann ein sehr bereicherndes Erlebnis sein, wenn die eigenen Kenntnisse und Erwartungen durch ein Spiel auf ihren Werkszustand zurückgesetzt werden. Auf einer blanken Tafel ist eben mehr Platz, um sie mit neuen, aufregenden Ideen zu bekritzeln. Oder mit Kreide-Penissen, wenn einem doch nichts besseres einfällt.

Teile dieses Screenshots sind ein Spiel.

Das heißt natürlich nicht, dass jedes Spiel ständig alles Bekannte über den Haufen werfen muss. Wie in jedem anderen Unterhaltungsmedium auch ist Zerstreuung und Berieselung ebenso erwünscht wie Anspruch und Weiterentwicklung. Jedoch ist es noch nicht allzu lange her, da legten bestimmte Diskussionen schmerzhaft offen, welch einfältige Denkweisen entstehen können, wenn Gaming ausschließlich in der Doppelhaushälfte am Rande einer idyllischen Kleinstadt stattfindet. Diskussionen darüber, ob Gone Home denn überhaupt ein Spiel sei, weil es nicht in das gelernte Regelbuch passte, was und wie ein Spiel gefälligst zu sein hat. Diskussionen darüber, wer überhaupt eine Stimme im Videospieldiskurs haben darf und wem das Recht der Kritikäußerung eigentlich gar nicht zusteht.

Und ich kann es sogar verstehen. Wenn man alles hat, was man haben möchte, dann hat man automatisch Angst davor, es wieder zu verlieren. Und diese Angst macht blind. Nach Gone Home erschienen nicht plötzlich weniger Call of Dutys oder Fifas, es gibt trotz Anita Sarkeesian immer noch geile Pixelärsche zu bestaunen und aus der idyllischen Kleinstadt ist kein krimineller Sumpf geworden, bloß weil jetzt ein paar Dark-Souls-Casuals in die Doppelhaushälfte nebenan gezogen sind. Doch wenn ich schon nicht darüber hinweg komme, dass bei den neueren Fallout-Titeln das Springen unverständlicherweise dem Y-Button zugeordnet ist, kann ich wohl schlecht erwarten, dass derlei irrationalen Ängste sich allzu bald verlernen lassen.