Blast from the Past: Sudden Strike

Sudden Strike

Ich bin ein Kriegsverbrecher. Passiert ist das in einem kleinen französischen Örtchen, von dem ich nicht mal den Namen kenne. Der fing aber wohl bestimmt mit “Saint” an und endete mit “sur l’Église”. Eben ein französisches Bilderbuchdörfchen – mit Kirche im Zentrum, einem kleinen Marktplatz, der von Café und Kramersläden eingerahmt wurde. Ich lag mit meiner Kompanie in einem kleinen Waldstückchen in der Nähe. Der Ort schien ruhig, feindliche Aktivität war für mich nicht auszumachen. Um die Lage zu sondieren, schickte ich drei Soldaten vor. Dieser Spähtrupp näherte sich über ein kleines Weizenfeld der ersten Häuserreihe. Als die Männer in der Mitte des Feldes waren, peitschte der erste Schuss über den Ort. Dann noch einer und noch einer. Das Echo hatte sich noch gar nicht ganz gelegt, da war mein Spähtrupp tot. Getroffen von einem Scharfschützen, dessen Position keiner der Soldaten überhaupt orten konnte, so schnell ging alles. Ich vermute, der Schütze hatte im Kirchturm Position bezogen.

Ich zögerte keine Sekunde, ließ die Artillerie in Stellung bringen und blind auf das Dörfchen feuern. Vornehmlich auf den Kirchturm, aber durch die Streuung der Geschosse wurde letztlich der gesamte Ortskern zerstört. In einer seltsamen Mischung aus Rache und Angst vor weiteren Verlusten durch den Scharfschützen, hatte ich ein kleines französisches Örtchen zerstört. Als sich der Qualm legte, schoss es mir durch den Kopf: Ich hatte soeben ein Kriegsverbrechen begangen! Es war mir egal, ob mein Artilleriebeschuss auch unschuldige Zivilisten tötete oder Kulturschätze unwiederbringlich zerstörte. Noch dazu war es auch militärisch wenig sinnvoll, wertvolle Haubitzen-Munition in rauen Mengen für einen einzelnen Scharfschützen zu opfern.

Sudden Strike

Dass ich mich aber jemals als Kriegsverbrecher vor einem Tribunal verantworten muss, ist mehr als unwahrscheinlich, denn die Szene spielte sich im Computerspiel Sudden Strike aus dem Jahr 2000 ab. Es war für mich einer dieser äußerst seltenen Momente spielerischer Selbstreflexion, die die Macht des Mediums Videospiel eindrucksvoll belegen, weil man aktiv handelt und bedeutsame Entscheidungen trifft. Ich, der etliche Jahre zuvor als Grundschüler in den Sommerferien bei den Großeltern nach Kriegsfilmen nachts nicht schlafen konnte, weil ich nicht verstand, warum Gregory Peck oder John Wayne darüber in Jubel ausbrachen, weil in einem MG-Nest eine Handvoll Landser zerfetzt wurden, hatte ohne mit der Wimper zu zucken ein Dorf in Schutt und Asche gelegt.

In diesem Moment verstand ich die Gräuel, die in Kriegen verübt werden. Ich verstand, warum die Wehrmacht italienische Dörfer dem Erdboden gleichmachte, weil man darin Partisanen vermute. Warum die Allierten Innenstädte ohne militärische Relevanz mit Bombenteppichen belegten. Ich verstand all das. Verstehen nicht im Sinne von rechtfertigen oder gar gutheißen; das sind und bleiben allesamt grauenhafte Verbrechen. Mir erschloss sich nur ihr Sinn innerhalb der grausamen und menschenverachtenden Logik der Kriegsführung. Es ist eben das, was der Krieg als Ultima Ratio mit den beteiligten Menschen macht. Mir wurde klar, dass es den gerechten Krieg, in dem eine gute Seite moralisch einwandfrei kämpft, nur in der Propaganda und in schlechten Geschichtsbüchern existieren kann.

Sudden Strike

Diese Erkenntnis ist eine beachtliche Leistung für eine kleines Echtzeitstrategie-Spiel, die Sudden Strike bis heute trotz oder gerade wegen dieses Momentes einen Platz in meinem persönlichen Spiele-Olymp sichern. Es erschien – wie bereits erwähnt – im Jahr 2000. Damals, als Publisher noch Namen wie Computerdisketten-Vertrieb (CDV) hatten und in der niemand auf die Idee gekommen wäre, den Zweiten Weltkrieg als abgenutztes Szenario für ein Spiel zu bezeichnen. Im Gegenteil: Steven Spielberg hatte gerade zwei Jahre zuvor dem Thema mit Der Soldat James Ryan neue Aktualität gegeben und es zurück in die Popkultur katapultiert. Das deutlich davon inspirierte, 1999 erschienene Medal of Honor galt mit seinem Setting als innovativ, ebenso Commandos. Medal of Honor: Allied Assault ist im Jahr 2002 mit der packenden Inszenierung der Landung in der Normandie als Revolution im Shootergenre zu betrachten. Das 2003 veröffentlichte, erste Call of Duty galt damals als nett gemachte, aber dreiste Kopie von Medal of Honor, dem langfristig wenig Erfolgsaussichten zugesprochen wurden.

Dass die russischen Fireglow-Studios den Zweiten Weltkrieg für Sudden Strike wählten, war kein Folgen eines Trends. Der Legende zufolge hielten sogar die Verantwortlichen bei CDV das Spiel für ein Nischenprodukt und die ersten gemeldeten Verkaufszahlen für einen Tippfehler. Die Schwemme an im Zeiten Weltkrieg angesiedelten Spielen kam erst danach und dass Kunden und Presse dem Szenario letztlich als Konsequenz ganz überdrüssig wurden, geschah erst ein gutes halbes Jahrzehnt später – schließlich wurde es aber auch der Sudden-Strike-Reihe zum Verhängnis. Erfolgreiche Genrekollegen befassten sich 2000 lieber mit historischen Schlachten (Age of Empires) oder Science-Fiction (Starcraft, Command & Conquer).

Auch sonst hob sich Sudden Strike von der Konkurrenz ab. Taktik war entscheidender als die sonst im RTS-Genre üblichen Materialschlachten (Stichwort: Tankrush). Infanteristen waren auch in Überzahl gegen Panzer hilflos, konnten sich nur mit Minen und Panzerfäusten wehren. In engen Straßenzügen hingegen konnten Panzer wiederum aufgrund ihrer sperrigen Ausmaße, eingeschränkten Manövrierbarkeit und geringen Sichtweite nur schwerlich gewinnbringend eingesetzt werden. Ein gut befehligter Infrantrie-Trupp konnten dem Gegner hier stattdessen wiederum empfindlich zusetzten. Auch eine größere Sichtweite konnte vermeintlich schwächeren Einheiten ein entschiedenen Vorteil verschaffen, wie am eingangs geschilderten Beispiel deutlich wird.

Beim Spieltempo unterschied es sich ebenfalls von Genre-Kollegen ab. Es artete nie in schnellen Klickorgien aus. Taktische Raffinesse führte zum Erfolg. Manchmal musste man – wie im echten Krieg – auch einfach nur stumpf warten. Betrachtete man den Frontalangriff über die Brücke als zu risikoreich, ließ man eben von den Pionieren flussaufwärts langwierig eine Pontonbrücke für seine Truppen bauen, um so dem Feind in die Flanke zu fallen.

Sudden Strike

Ich betrachte Sudden Strike bis heute als Meilenstein der Echtzeittaktik, auf den Serien wie Blitzkrieg, Panzers, Company of Heroes oder Men of War folgten. Fireglow selber lieferte 2002 das ebenfalls sehr gute Sudden Strike 2 nach. Für Teil drei ließen sich die Russen bis 2007 Zeit, um dann ein zu diesem Zeitpunkt technisch veraltetes Spiel zu veröffentlichen, das dank Grafik, Genre und Szenario aus der Zeit gefallen schien. Viele Branchenentwicklungen hatte das Studio schlicht verpennt. Sudden Strike 4 ist seit 2008 angekündigt, aber kann mittlerweile getrost der Kategorie “Vaporvare” zugesprochen werden. Ob Fireglow heute noch existiert ist unklar, die Webseite wurde mittlerweile abgeschaltet. Trotzdem bleibt das Vermächtnis des Studios bestehen: Aktuelle Titel wie Wargame berufen sich noch immer auf Mechaniken, der es dereinst etablierte. Auch ich werde wohl auf ewig mit dem Makel leben müssen, dank Sudden Strike zum virtuellen Kriegsverbrecher geworden zu sein.


In der Serie Blast from the Past berichten Superlevel-Autorinnen und -Autoren über prägende Spiele und Spielerlebnisse aus der Kindheit und Jugend. Wir freuen uns über einen regen Erinnerungsaustausch in den Kommentaren.