Cart Life

Willkommen bei Cart Life, ihrem in Schwarz-Weiß-Grau-Pixelästhetik gehaltenen Digital-Semidepressivum, welches als ‘Einzelhandelssimulator’ drei der wichtigsten Auszeichnungen des diesjährigen Independent Games Festivals — inklusive des Grand Prizes — für sich beanspruchen konnte. Jetzt schon verwirrt? Exzellent.

“Cart Life is a retail simulation for Windows which showcases the lives of street vendors in a small city which is located in the Western United States.”
– Richard Hofmeier

Im Gegensatz zur starken Konkurrenz wirkt Cart Life irgendwie unsauber, roh und dezent deplatziert. Im spieleeigenen Forum türmen sich Berichte von programmierfehler-bedingten Frustrationsmomenten (“Hugs not bugs!”) und Jammertiraden darüber, wie heftig die zentralen Quick Time-Events doch das Spielerlebnis stören würden. In seinem Kern ist Cart Life vor allem eins: Eine Katastrophe. Doch eben diese deprimierende Unvollkommenheit verhilft dem Spiel überhaupt erst zu seinen brillierenden Momenten.

Während zu Beginn eine eingängliche Chiptune-Melodie den SpielerInnen entgegendröhnt, verbirgt sich Cart Life noch unter dem so vertraut scheinenden Label der Wirtschaftssimulation. Zunächst soll man sich für einen von drei verschiedenen Charakteren (und mit ihnen für eine spezielle Produktsparte) entscheiden: Entweder für den Zeitungsstandbesitzer Andrus, für die Kaffeeverkäuferin Melanie oder aber für den Bagelbäcker Vinny. Doch im Gegensatz zu klassisch konventionellen Wirtschaftssimulationen gilt es hier nicht nur die einfache Handlungskette “1.) Material billig einkaufen, 2.) Produkte günstig erstellen, 3.) Ware gewinnbringend verkaufen” auszuführen. Andrus, Melanie und Vinny sind nicht austauschbar. Sie sind keine Humanressourcen. Sie sind Unikate.

“Work harder, hard worker.”
– Richard Hofmeier

Ihre Einzigartigkeit beziehen sie aus zwei Faktoren. Da wäre zum einen ihre — in den inhaltlichen Aspekten zwar minimalistische, dafür aber in den jeweiligen Fragmenten sehr detaillierte — (Aus-)Erzählung. Die finanziellen Interessen des Trios der Standbesitzenden sind allesamt unterschiedlich, aber immer melancholisch bis tragisch motiviert. Andrus versucht in der Hochburg des Kapitalismus mit seinem Hauskater Mr. Glembowsky eine neue Heimat zu finden, da mit dem Tod seiner Lebensgefährtin sein altes Zuhause ihm keine Geborgenheit mehr bot. Die wöchentlich fällige Miete für sein heruntergekommenes Motel-Zimmer ist allerdings nur schwer durch den Zeitungsverkauf allein finanzierbar. Auch den Meisterbäcker Vinny plagen Mietprobleme und Zukunftsängste, die als Kontrast zu seinem sonst so hervorsprudelnden, koffeinverursachten Elan dienen. Melanie hingegen versucht sich mit ihrem Heißgetränkestand eine unternehmerisch sichere Identität aufzubauen, mit der sie nach ihrer Scheidung für ihre Tochter Laura und sich sorgen kann; sollte dies nicht gelingen, so droht die Abgabe des elterlichen Sorgerechts. Bei allen schwingt also ständig ein Gefühl der Versagensangst mit.

Doch diese narrative Ebene ist eben nur ein Aspekt. Viel wichtiger erscheint mir die Verknüpfung der Charaktere mit ihren spezifischen Spielmechaniken. Bevor Andrus morgens seine Zeitungslieferung in das Regal einsortieren kann, müssen die SpielerInnen mindestens elf vorgegebene Wortfetzen oder Sätze wie “Fold.” oder “Hopefully these will all sell.” korrekt eintippen — ansonsten wird ein Exemplar zerstört. Auch Vinnys Bagel-Produktion geht komplett schief, wenn eine falsche Zutat oder gar nur ein Hauch zu viel Mehl beigemischt wird. Soll hingegen eine Transaktion bei Melanie gelingen, so müssen acht verschiedene Schritte nacheinander durchgeführt werden. Am Ende müssen noch ein bis zwei Zutaten in den Kaffee beigemischt werden, damit eine spezielle Variante gelingt (Wasser für einen Americano, Milch und Sirup für eine Latte, et cetera). Aus Versehen eine falsche Taste betätigt? Dann nochmal von vorne. Jedenfalls, wenn die Kundschaft noch genügend Geduld hat und nicht schon längst unbefriedigt gegangen ist.

Durch diesen dauerhaften Druck stellt sich ein kritisches Flow-Gefühl ein, wie kürzlich schon Achim Fehrenbach bei Zeit Online anmerkte. Das Spiel, was sich erst nur als ein Spiel über Arbeit ausgibt, wird durch die Monotonie seiner Aufgaben selbst zur Arbeit. Die anfänglich so komplizierten Bewegungsfolgen werden durch hartes Training und einem Siegeswillen immer eleganter durchführbar. Der Wechsel von Tastatur- zu Maussteuerung binnen Millisekunden, der für die Herausgabe von Wechselgeld notwendig wie nervtötend ist, wird zur Angewöhnungsarbeit. Cart Life lehrt uns absolut umständliche Handlungsmuster, wie wir sie in keinem anderen Spiel je wieder in der gleichen Form benötigen werden. Cart Life handelt in diesen Momenten nicht thematisch von Arbeit, sondern wird zu ihr. Unterbrochen wird dies nur durch die Zufriedenstellung eigener, allzu menschlicher Bedürfnisse und Gelüste wie dem Kampf gegen die Müdigkeit, den Hunger oder die Nikotin- beziehungsweise Koffeinsucht.

Doch niemand sollte sich nun in die Irre führen lassen. Auch das ist nur eine (wenn auch die aufdringlichste) Facette von Cart Life. Was sich bis hierhin entweder als ein grandios konzeptioniertes Meta-Spiel oder aber als Pseudo-Sozialkitsch alias prätentiöse Drecksscheiße interpretieren lässt, entfaltet erst mit einem Durchspielen — egal ob ‘erfolgreich’ oder nicht — seine volle Wirkung. Jedes Ende für jeden Charakter ist unglaublich individuell und liebevoll gestaltet. Ich möchte daher nun vorwarnen, dass der gesamte nächste Absatz ein einziger großer Spoiler für die Enden von Andrus und Melanie ist. Ich will die beiden beschreiben, um aufzuzeigen, wie viel Mühe und Liebe in Cart Life steckt. Wer nichts davon lesen möchte, sollte einfach zum Absatz nach dem nächsten Bild springen.

Spoiler [Anfang]

Wie bereits angemerkt, unterscheidet sich die Gestaltung der Enden unter den Charakteren in Cart Life enorm. Bei Andrus gibt es beispielsweise ein klares Ziel: Er muss eine bestimmte Menge Geld bis zum Wochenende aufbringen, ansonsten kann er seine Zimmermiete nicht bezahlen. Wenn er erfolgreich ist, stellt sich ein gutes Ende ein, wo er und Mr. Glembowsky beruhigt im Zimmer sitzen und sich Andrus ganz unspektakulär über den gelungenen Neuanfang freut. Versagt er allerdings, so wird sich sein kleinkarierter Vermieter ihm in den Weg stellen und die Wohnung absperren. Er droht Andrus damit die Polizei zu rufen, sofern sich Andrus nicht vom Gelände entfernt. Dieser fürchtet jedoch um das Leben seines Mr. Glembowskys, da dieser verhungern könnte. Eine unglaubliche Wut überkommt ihn in Anbetracht dieser Möglichkeit. Seine Augen strahlen teuflisch, als er den verhassten Mietordnungshüter mit einem Klappmesser tötet. Danach sieht man, wie er von der Polizei abgeführt wird. Bei Andrus kann man also entweder ein dramatisches, aber dafür trauriges oder aber ein gutes, aber fast schon enttäuschend langweiliges Ende erleben — Andrus wird nie zum großen Gewinner.

Melanie hingegen bekam nie eine exakte Mindestsumme genannt, die für den Erhalt des Sorgerechts notwendig gewesen wäre. Ich kann mich schon gar nicht mehr erinnern, wie viele Dutzend Pappbecher ich mit Chai Latte füllte. Ich begab mich in eine Art kriminellen Deal, wo ich für 250 US-Dollar ein gefälschtes Fachbuch über die Kulturgeschichte des Kaffees sowie komplexe Espressomaschinen an ein schräges, profitgeiles Brüderpaar verkaufte. Ich versuchte einfach nur unter allen Umständen so viel Geld wie mmöglich zusammenzukratzen. Am Ende der Woche nahte dann der Gerichtstermin, an dem Melanie die Profitabilität ihres Geschäfts belegen sollte. Doch anstatt einen Richterspruch zu hören, ob sie denn nun das Sorgerecht erhalten würde, war da nur ihre Schwester Rebecca, die ihr sagte, dass alles schon irgendwie gut werden würde. Dann war alles schon zu Ende. Cart Life ließ mich im Ungewissen. Habe ich mich genug angestrengt? Wird Melanie weiterhin mit ihrer Laura zusammenleben dürfen? Geht es ihnen gut? Keine Ahnung. Ein dumpfer Schlag in meine neugierige Fiktionsvoyeuristenfresse. Es ist so, als würde mich Cart Life fragen: “Interessiert dich denn wirklich, was mit Melanie passiert?” — jetzt schon.

Spoiler [Ende]

Cart Life ist für mich tatsächlich eine Art Meilenstein der letzten Jahre, der mir erneut die Relevanz der Digitalspielekultur bescheinigt. Keine Sorge, dieser Beitrag soll nicht in einer Götzenhuldigung münden: Richard Hofmeier ist in meinen Augen kein Genie der Spieleprogrammierung, sehr wohl aber ein rebellischer und bewundernswerter Grenzgänger mit wohl fundierten Ideen, Konzepten und einer Prise wohltuendem, idealistischem Bewusstsein.

Natürlich ist Kapitalismus- und Wirtschaftskritik kein grundsätzlich neues Thema für Computerspiele. Auch Sweatshop hat bereits mit einer Mischung aus moralischem Zeigefinger und einem beständigen Augenzwinkern auf die grottigen Arbeitsbedingungen in solchen Fabriken hingewiesen. Einen viel grundsätzlichere, aber auch flachere Kritik bringen Spiele wie Strike of Rage ! und Promoted! an.

“It’s an exploration of normality that is both more artistic and more realistic than anything The Sims has provided over three games and fourteen thousand expansions.”
– Adam Smith

Selbst in meinem geliebten Final Fantasy VII war schon ein über alle Maßen auf Profit und (ökonomische) Macht fixiertes Unternehmen der Stein, mit dem die Erzählung überhaupt erst ins Rollen kam. Auch Kentucky Route Zero ist mehr oder minder mit kryptischen Hinweisen auf Weltwirtschaftskrisen übersät. Als weitere Beispiele seien hier nur noch kurz Little Inferno, Recettear: An Item Shop’s Tale sowie Mr. Wily genannt. Kapitalismus-, Konsum- und Wirtschaftskritik ist also keine Innovation, die Cart Life für mich besonders macht. Aber was denn dann?

Einfach die direkte Art und Weise.
Einfach das Fehlen jeglicher Ironie.
Einfach die investierten Stunden.
Einfach die Wut durch Spielabbrüche und Neuanfänge, durch Programmierfehler erzwungen.
Einfach die Trauer.
Einfach das Herz.
Einfach die Ehrlichkeit.
Einfach die Orientierungslosigkeit.
Einfach alles.
Einfach die Einzigartigkeit.