Celestian Tales: The Old North – Wochenendausflug

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Seit ein paar Jahren nehme ich neben dem “Pile of Shame” – dem Stapel gekaufter, aber nie gespielter Spiele – ein weiteres Phänomen wahr: Die Kickstarter-Amnesie. Anfang des Monats befand sich plötzlich Celestian Tales: The Old North in meinem Posteingang, ohne dass ich mich daran erinnern konnte, es damals auf Kickstarter unterstützt zu haben. Eigentlich kann ich dieser Art nostalgischem JRPG nicht sonderlich viel abgewinnen. Aber irgendetwas werde ich mir damals schon dabei gedacht haben, und jetzt wo es mir ohnehin zugeschickt wurde, konnte ich es ja auch gleich installieren und mich auf die Reise in den alten Norden begeben.

Dort bereiten sich die sechs HeldInnen gerade auf ihre Ausbildung zu RitterInnen vor. Doch was mit Azubi-Aufgaben wie dem Aufräumen der Ställe anfängt, wird schnell ernst. Die “World Enders”, eine Armee von Giganten, landen an der nördlichen Küste und beginnen einen Krieg mit dem Königreich des Nordens, während sich hinter den Kulissen des Palastes eine Verschwörung offenbart… und die sechs Knappen stecken natürlich mitten drin.

Dass es keine weibliche Schreibweise des Wortes “Knappe”, das sich ursprünglich übrigens vom Wort “Knabe” ableitet, gibt, würde eine deutschsprachige Übersetzung von Celestian Tales: The Old North vor eine knifflige Aufgabe stellen. Denn die Auszubildenden widersprechen mit vier Frauen und zwei Männern der typischen Geschlechteraufteilung des mittelalterlichen Fantasy-Genres. Auch sonst ist die Welt von Celestian Tales trotz der strikt religiösen Gesetzgebung weniger Patriarchal geprägt als die echte. Schade ist nur, dass trotzdem alle Menschen weiß sind und sich das Spiel so nicht ganz mit seiner Diversität schmücken kann.

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Celestian Tales umgeht das Meiste, was mich am Genre üblicherweise stört. Die Geschichte hält sich nicht lange mit Nebensächlichkeiten auf und die Charaktere lernen schon nach wenigen Erfahrungsstufen neue Fähigkeiten hinzu, die den rundenbasierten Kämpfen einen taktischen Anstrich verleihen. Die drei im Kampf aktiven Knappen sind wie auch deren Spezialfähigkeiten nicht festgeschrieben, sondern lassen sich zwischen den Kämpfen nach Belieben austauschen. Dank einer überschaubaren Anzahl bleibt die Auswahl jedoch auch für Rollenspiel-Unerfahrene wie mich stets übersichtlich. Celestian Tales lädt dazu ein, mit verschiedenen Kombinationen zu experimentieren. Das ist auch notwendig, denn die richtige Mischung aus offensiven und defensiven sowie aktiven und passiven Taktiken ist nicht ganz leicht zu finden.

Leider nutzt Celestian Tales das Potential des Kampfsystems nur selten aus. Da sich die Zusammensetzung des Teams nur außerhalb der Kämpfe verändern lässt, werden Niederlagen gegen Endgegner oft mit jedes mal länger wirkenden Fußweg und Dialogen bestraft, bevor die neue Herangehensweise ausprobiert werden kann. Außerdem muss die zu Anfang als Hauptcharakter gewählte Figur an jedem Kampf beteiligt sein, was den taktischen Spielraum weiter einschränkt. Wohl als Motivation zum mehrmaligem Durchspielen gedacht, schadet es den Kämpfen.

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Auf die Geschichte hingegen hat die Wahl der Anführerin oder des Anführers eher einen geringen Einfluss und beschränkt sich auf den Perspektivwechsel in einigen Szenen. Die Story ist zwar voll von erwartbaren Stereotypen einer Fantasywelt, hat aber dennoch genug Wendungen, um über die vergleichsweise kurze Spielzeit von etwa 10 Stunden nicht die Puste zu verlieren. Besonders die Entwicklung der jungen Hauptcharaktere und die aufkommenden Zweifel an den Grundwerten ihrer Erziehung stehen im Mittelpunkt. Celestian Tales erzählt von ihrem Erwachsen werden, dem Übernehmen von Verantwortung und ihrem Umgang damit.

Celestian Tales könnte die nostalgische Vorstellung eines JRPG für Leute sein, die keine Zeit für epische JRPGs haben. Allerdings halten einige Kleinigkeiten das Spiel letztendlich davon ab, so zugänglich zu sein, wie es sein könnte. So dürfte es Celestian Tales trotz der teils sehr hübschen, handgezeichneten Illustrationen und dem kurzweiligen Kampfsystem schwer fallen, zwischen der immensen Auswahl an Retro-Rollenspielen nicht übersehen zu werden. Hätte ich es damals nicht aus irgend einem Grund auf Kickstarter unterstützt, wäre es wohl zumindest mir so gegangen.