Confessions of a Videogame Tourist

Warum spielen? Es gibt viele Gründe. Hier ist meiner, für den ich etwas ausholen muss.

Unsere Vorfahren sind in uns. An die 200.000 Jahre bewegt sich Homo sapiens auf diesem Planeten, und allzu leicht gerät in Vergessenheit, dass wir von Natur aus Nomaden sind, unstet, wandernd, in Bewegung. Lächerliche 8.000 Jahre ist es her, dass sich Sesshaftigkeit als Lebensmodell etablierte. Der Mensch ist sowohl körperlich als auch geistig zum Wandern geboren, zum Reisen, zum Erforschen.

Das Nomadentum hat sich vergraben in unserer Gegenwart der Computerarbeitsplätze, der verdichteten Flachbauweise, der Pensionsvorsorge. Nur manchmal kommt es zum Vorschein, in jedem unterschiedlich: in den Migrationsbewegungen zu Urlaubsbeginn, in sonntäglichen Spaziergängen, im Gap-Year-Travelling, in Wohnmobilen mit Satellitenschüsseln. Wir suchen das Neue, das Spektakuläre, Große; das romantisch Verfallene, das adrenalintreibend Gefährliche. Die Buchläden sind voll mit Reiseführern, Bildbänden und Reiseberichten, die unser Fernweh speisen und uns aber leicht vergessen lassen, dass wir als Touristen auch und hauptsächlich Konsumenten sind, von Eindrücken, Orten und Erlebnissen.

Was anfangen mit unserem nomadischen Körper, der nach Bewegung schreit? Und noch schlimmer: Wie unseren nomadischen Geist befriedigen, der nicht sesshaft sein will? Spiele sind vieles: Wettkampf, Unterhaltung, Treffpunkt, Prüfung, Meditation. Viele sind aber noch mehr: virtuelle Orte, Räume hinter dem Bildschirm, die nur für uns gemacht wurden, um uns darin zu bewegen. Und während unser realer Bewegungsradius durch unser modernes, sesshaftes Leben sich auch durch die Möglichkeiten der Telekommunikation paradoxerweise immer weiter einschränkt, wachsen die Freiräume und Bewegungsräume, in denen wir unser reales, sehnsuchtsvolles Nomadentum virtuell ausleben können.  Denn während der moderne Großstadtbewohner den nomadischen Körper seiner Vorfahren durch Joggen und Ausgleichssport zufriedenstellen kann, bleibt der Hunger nach dem Nomadentum selbst, nach dem Neuen, der Landschaft hinter dem Hügel außerhalb schmerzhaft limitierter Urlaube meist notorisch unbefriedigt – zumindest bei jenen von uns, die diese Sehnsucht verspüren.

Spiele lassen uns aufbrechen, befreien uns aber von den Ärgernissen des Reisens, von den Strapazen, den Kosten, den Unwägbarkeiten. Sie lassen uns die Illusion, Neues zu erleben und dabei allein zu sein, statt im Massentourismus zu verzweifeln.

Und: Sie führen uns an Orte, die so fantastisch sind, dass sie nur in der Fantasie existieren können: in Unterwasserstädte, in denen Art deco und Wahnsinn aufeinandertreffen; in verstrahlte Todeszonen, in denen die Ruinen unserer Zivilisation malerisch verrotten; in größenwahnsinnige Tempelarchitekturen zwischen Hölle und Paradies. Spiele geben uns Orte, Räume, ganze Kontinente, die wir erforschen und an denen wir unseren Hunger nach Neuem stillen können. Warum reisen in diese Welt hinter dem Bildschirm? Aus demselben Grund, aus dem der höchste Berg der Welt bestiegen wurde: “Because it’s there.”

Nicht alle Spiele eignen sich gleich gut für diese Art des Tourismus. FIFA, Gran Tourismo, Counterstrike, sogar Tetris versetzen uns wohl auch an virtuelle Orte, doch in ihnen ist unser Handeln wichtiger als unsere aufdeckende, erforschende Bewegung in ihnen. Andere Spiele wiederum leben fast ausschließlich vom Reiz des virtuellen Reisens: Uncharted, Tomb Raider, Skyrim, Bioshock, Dear Esther, Limbo, Spelunky, Minecraft, Assassin’s Creed, um willkürlich einige zu nennen, locken uns mit ihrer Welt, die nur für unsere Neugier aus Bits und Bytes errichtet wurde, immer tiefer voran. Für diese Momente, für diese Neugier, für dieses Nomadentum von Dunwall nach Rapture, von Pripjat nach Skyrim, von Liberty City nach Hyrule lohnt es sich, zu spielen.

Oft wird diese Leistung des Mediums übersehen, vor allem, weil nicht alle Spiele des in alle Richtungen explodierenden Mediums sie erbringen können. Journey und Dear Esther haben die Metapher des Spielens als Reisen durch eine innere Landschaft zum zentralen, fast esoterischen Element erhoben, doch auch hinter handfesteren Spielen findet sich diese Art des virtuellen Tourismus als Anreiz: Die Traumstrände oder Safari-Idyllen von Far Cry, die skandinavischen Weiten von Skyrim, die Dschungeltempel von Tomb Raider und die unheimlichen Hallen Raptures unter dem Meer sind Orte, die für sich genommen viel mehr die Hauptrollen in ihren Titeln spielen als die Protagonisten oder die in ihnen lebenden Gegner.

Dass dieses virtuelle Reisen auch als solches von den Spielern erlebt wird, beweist auch der Aufstieg eines klassisch touristischen Verlangens: Wer einen beeindruckenden Ort bereist, will etwas davon mitnehmen, und sei es nur eine Erinnerung. Mehr und mehr Spieler halten ihr Reisen in diese Welt hinter dem Bildschirm fest, und die Resultate dieser In-Game-Fotografie lenken den Blick auf Details, die nur dem Reisenden, nicht aber dem geschäftigen Spieler auffallen, der in diesen Welten stets mit einem Auftrag, einer Mission unterwegs ist.

Doch Moment: Spielen statt Reisen? Das wäre absurd. Die Realität, so brüchig ihre Grenzen zum Virtuellen auch geworden sind, ist das große Abenteuer, dem wir uns möglichst umfassend  aussetzen sollen. Wer je in Schottland im Zelt gefroren hat, wer je den Wahnsinn einer indischen Großstadt erlebt oder die Sonne hinter dem Grand Canyon aufgehen gesehen hat, weiß, dass Realität und virtuelle Welt nicht verwechselt werden können.

Die Sehnsucht nach der Bewegung, nach dem Leben als Nomade lässt sich durch die virtuellen Entdeckungsreisen nicht vollständig stillen. Aber sie helfen uns, die Zeit zu überbrücken, bis wir wieder den Monitor abschalten, unsere Schuhe zubinden und uns der großen Welt vor dem Bildschirm zuwenden. Und trotzdem: Spiele, als virtuelle Bewegungs- und Erforschungsräume, sind vielleicht jenes Ausgleichsmedium, das unsere sesshafte, sitzende Zivilisation braucht, um ihre lange verdrängten, aber noch sehr lebendigen und unstillbaren nomadischen Sehnsüchte zu stillen. Und vielleicht liegt darin sogar ihr großes, bisher zu wenig erkanntes Potenzial.


Bildmaterial:

Anthemios (Fallout New Vegas)
Pixiegirl4 (Mass Effect 3)
Josh Taylor (EVE Online & Assassin’s Creed: Brotherhood)
Midhras (Skyrim)