Warum Spiele oft am schönsten sind, wenn ihre Welt in unserer verortet ist.
Während ich diese Zeilen schreibe, schießen und quasseln sich tausende Menschen durch eine Stadt, die so aussieht, wie wir uns ein postapokalyptisches Boston vorstellen. Parallel hangeln sich andere im viktorianischen London an Dachrinnen entlang. Wer weder der Zukunft noch der Vergangenheit etwas abgewinnen kann, macht vielleicht die Straßen einer Stadt unsicher, die dem heutigen Los Angeles nachempfunden ist oder robbt durch den afghanischen Sand. Und vermutlich viel zu wenige durchwandern gerade die mongolische Steppe, um die Geheimnisse des Adventures Cradle zu lüften.
Auch wenn Spiele verglichen mit Film und Literatur häufiger mit frei erdachten oder gänzlich abstrakten Szenarien arbeiten, gibt es Repräsentationen echter Orte im Spiel so lange, wie es Adventures gibt. Spätestens seit ich mit Zak McKracken an Orte wie Kinshasa oder Katmandu gereist bin, weiß ich, dass solche Spielorte tiefere Eindrücke in meinem Gedächtnis hinterlassen als jede regenbogenfarbige Fantasylandschaft. Immer vorausgesetzt natürlich, dass mehr dahinter steckt als das Vervielfältigen von Klischees. Cradles mongolisches Setting, eingebettet in eine Science-Fiction-Geschichte, ist ein Musterbeispiel dafür, wie das geht, und zwar ganz ohne AAA-Budget.
Es muss schließlich nicht immer eine komplette Stadt sein, manchmal reicht ganz wenig, um viel Atmosphäre zu erzeugen: in diesem Fall die Steppe als charakteristischer Landschaftstyp und eine traditionelle Jurte, die mit viel Liebe zum Detail entworfen wurde. Die ukrainischen Entwickler Flying Cafe for Semianimals haben zusätzlich eine Vielzahl von kleinen Informationen, Geschichten und Hinweisen auf mongolische Traditionen eingebaut, die sich im Laufe des Spiels entdecken lassen.
Neben die Vergangenheit tritt die Zukunft: Cradles Welt ist eine hochtechnisierte. Der nomadische Lebensstil hat den gesellschaftlichen Wandel dabei allerdings überdauert und Hightech in der Jurte wirkt nicht anachronistisch, sondern plausibel. Umgeben ist diese Welt im Zelt von schroffer Natur und verfallenen Strukturen, die einen betörenden und zugleich befremdlichen Sowjet-Charme ausstrahlen. Dabei erinnert Cradle mit seiner weiten Landschaft an den virtuellen Hebriden-Spaziergang Dear Esther, bietet allerdings wesentlich mehr klassische Spielelemente.
Cradle ist ein Science-Fiction-Abenteuer mit einer komplexen Geschichte darüber, was es bedeutet ein Mensch zu sein. Dabei ließen sich die Entwickler nach eigener Aussage von Albert Camus und den russischen Autoren Wladimir Sorokin, Andrei Platonow sowie Arkadi und Boris Strugazki inspirieren. So konsistent und fesselnd die Geschichte ist, so merkwürdig ist die Spielidee: Das explorations- und storybetonte Adventure geht nämlich immer wieder in eine Reihe von gleichartigen Minispielen über, die mir nicht besonders viel Spaß gemacht haben und sich nach einem Fehlversuch gottlob überspringen lassen, um die Spielzeit sinnvoller in das Erforschen der Umgebung und das Aufdecken der Geschichte zu investieren.
Allzu störend fand ich diese Minispiel-Episoden trotzdem nicht, denn die überragende Stärke von Cradle ist sowieso weder die Story noch die Spielmechanik, sondern seine grafische Gestaltung. Diese Landschaft! Diese Charaktere! Diese Architektur! Und dieser Himmel! Mit seiner eigenartigen Schönheit hat Cradle durchaus das Zeug dazu, einem den Genuss anderer aktueller Spiele zu verderben. So wenig vergleichbar beide Titel sind: Es ist wahrscheinlich keine gute Idee, nach einer Partie Cradle mit Fallout 4 zu beginnen.
Viel ließe sich schreiben über die Schwächen des Spiels, etwa seine Synchronisierung und kleinere technische Probleme, über vertane Chancen oder zu hohe Erwartungen. Aber letztlich ist Cradle vor allem ein Spiel, das Mut zum Besonderen zeigt und dafür leider zu wenig Aufmerksamkeit bekommen hat. Das Besondere liegt in der Wahl und Gestaltung der Spielwelt – und die bleibt von Cradles unbestritten vorhandenen Schwächen seltsam unbeschadet. Meine Reise durch die mongolische Landschaft hat Eindrücke hinterlassen, die nicht so schnell vergessen sein werden.
Daneben hat Cradle bei mir aber noch etwas bewirkt: Die Auseinandersetzung mit der Frage, was ich an solchen Reale-Welt-Szenarien eigentlich so reizvoll finde. Man könnte annehmen, hier wirke schlicht die Macht des Vertrauten. Warum sonst freue ich mich über Bekanntes in einem Medium, das der Fantasie so gut wie keine Grenzen setzt und unserer Welt mit ihren Problemen so viel virtuelle Schönheit entgegenhalten kann? Warum empfinde ich das mongolische Setting in Cradle als spannender als seine Sci-Fi-Elemente? Oder anders gefragt: Warum überhaupt Realitätsflucht, wenn es dann dort gar nicht so viel anders aussieht als hier? Doch so einfach ist es nicht – aus vielerlei Gründen.
Erstens ist es zu billig, Eskapismus bei Spielen als das dominierende Motiv anzunehmen. Natürlich ist unbestritten, dass der Wunsch nach einer temporären Realitätsflucht ein Motiv sein kann, zu spielen. Ein legitimes Motiv obendrein. Aber es ist eben nicht das einzige. Eskapismus bedeutet – zweitens – auch nicht, dass die Welt, in die ich fliehe, möglichst weit von meiner erlebten Realität entfernt sein muss. Eskapismus ist es auch dann, wenn sich die Parameter der Scheinwirklichkeit nur geringfügig von denen meines Lebens unterscheiden – aber eben in genau dem Maß und der Qualität, dass mir die Scheinwelt attraktiver erscheint als mein Alltag. Es kann schon reichen, dass ich in Die Sims mehr soziale Kontakte habe als in der Wirklichkeit oder dass über meiner Insel in Tropico die Sonne scheint, während es in der Realität regnet.
Und drittens bietet die Welt genug Material für eine unendliche Menge von Szenarien für mögliche Spiele. Zudem greifen wir sowieso permanent auf unsere Erfahrungen und Erlebnisse in der realen Welt zurück – bewusst und unbewusst. So kann sich auch das abgefahrenste Fantasy-Szenario nicht davon freimachen, dass es immer in unserer Erfahrungswelt verankert ist, und sei es durch das Vorhandensein von Regelwerken wie physikalischen Gesetzen, die seine Freiheit einschränken. Oft entsteht Großes schließlich nicht durch maximale Gestaltungsfreiheit, sondern durch den kreativen Umgang mit Grenzen und Beschränkungen. Indie-Entwickler sind aus der Not heraus Meister darin, solche Grenzen maximal auszuloten. Und zum Glück überlassen sie es nicht allein den großen Studios, irdische Szenarien nachzubauen, wie Cradle nachdrücklich beweist. Die westlichen Metropolen können sie getrost dem Mainstream überlassen, wenn die Diaspora so viel Reiz entfaltet wie hier. Mehr davon, bitte!
Nachdem ich Cradle durchgespielt hatte, spürte ich so etwas wie Fernweh nach dem Ort, den ich im Spiel zurückließ. Und das ist wohl auch die Antwort auf die Frage, was reale Orte im Spiel so reizvoll macht. Denn während die Schauplätze von Skyrim oder Borderlands für immer unerreichbar bleiben, ließe sich solches Fernweh theoretisch stillen: Auf dem großen Basar in Istanbul, im Kolosseum in Rom, in der mongolischen Steppe, auf den Straßen Miamis oder in den Casinos von Las Vegas finden sich Spuren unserer Spielerlebnisse. Und selbst wenn es in der Regel beim Konjunktiv bleibt, ist es doch schön zu wissen, dass wir diese Orte irgendwann mit unseren virtuellen Erfahrungen abgleichen könnten.