Es ist nicht immer das Feuer, das verbrannte Erde hinterlässt.
Ich weiß genau, warum ich hier bin. Mein Name ist Henry und ich bin geflohen. Nicht vor dem Krieg, nicht vor der Polizei, nein, vor meiner eigenen Ehefrau Julia. Die Erinnerungen an unser erstes Aufeinandertreffen, an unseren ersten Streit, an unseren gemeinsamen Hund, sie ziehen an meinem geistigen Auge vorbei und es sticht zu wissen, dass sie all das nicht mehr sehen kann. Julias geistiges Auge ist erblindet, sie sitzt im Alter von nur 43 Jahren mit Demenz in einem Pflegeheim, während ich mich aus meiner Verantwortung stehle und in den Nachwehen des größten Lauffeuers in der Geschichte der USA einsam von einem Aussichtsturm aus in die Überreste des Waldes starre. Firewatch ist ein Spiel über das Vergessen. Über das Vergessenmüssen und das Vergessenwollen. Und es trägt in erheblichen Maße Sorge dafür, selbst so schnell nicht in Vergessenheit zu geraten.
Die deprimierende Ausgangslage verschleiert ein wenig die tatsächliche Lockerheit von Firewatch. Angekommen in meinem hocherhobenen Heim für den Sommer 1989, meldet sich eine Stimme über die Funkanlage, die mich fortan über die komplette Spiellänge hinweg begleiten soll. Es ist das leicht rotzige Organ von Delilah, die alle Beobachtungsposten koordiniert und ihnen Arbeitsaufträge erteilt. Eine Stimme, die ich – wann immer möglich – einfordere, weil ihr Humor, ihre Grundehrlichkeit und ihre entwaffnende Art alles andere in den Hintergrund zu rücken vermag. Die ersten Tage im Wald sind dank unserer Gespräche eine heilsame Erfahrung. Sie sind geprägt von schneeballartigen Dialogen und von einer sich intensivierenden Funk-Beziehung, die ich an- und ausknipsen kann, wie es mir passt. Gefällt mir eine Frage nicht, lasse ich sie unbeantwortet. Manchmal verärgere ich damit Delilah und sie meldet sich einige Zeit nicht, aber letztlich kann auch sie nicht mehr von mir lassen.
Mit jemandem wie Delilah habe ich hier nicht gerechnet. Schon gar nicht damit, dass sie mir so schnell wichtiger wird als die unbegreifliche Schönheit von Firewatch, die zweifellos beweist, welch bleibende Eindrücke die Abkehr vom Streben nach Fotorealismus hinterlassen kann. Jedes fallende Blatt brennt sich auf meine Netzhaut und verweilt dort einige Sekunden, bevor ich mich wieder abwenden und meinen Anweisungen Folge leisten kann. Sieht zunächst alles ähnlich und gleichmäßig aus, macht sich der Wald mit mir unterschwellig vertraut und ich zücke immer seltener die Karte und den Kompass aus meinem Rucksack. Mit zunehmender Spielzeit gelange ich zu der Erkenntnis, neben der rein stimmlichen Beziehung zu Delilah auch eine non-verbale mit meiner Umgebung eingegangen zu sein. Bis beide auf eine harte Probe gestellt werden.
“I don’t talk to the other lookouts as much as I talk to you… not in the same way.”
Wie eine Zwiebel, deren schimmliges Inneres erst mit dem Abtragen der äußeren Schichten zum Vorschein tritt, muss ich mich auch durch Firewatch schälen, um zu realisieren, dass hier etwas gewaltig faul ist. Ein Fremder aus sicherer Distanz beobachtet mich, Menschen werden als vermisst gemeldet, Gesprächsprotokolle von Delilah und mir tauchen auf und ein größeres Waldstück ist vollständig umzäunt, ohne dass Aufzeichnungen darüber existieren. In Momenten wie diesen droht das geschaffene Vertrauensverhältnis ins Misstrauen zu kippen. Wie ein junger Fox Mulder begebe ich mich auf die Spurensuche dieser Mysterien, versuche die Wahrheit, aber auch die jäh verschollene Unbeschwertheit zu finden, die von einem sich nun immer weiter ausbreitenden Flächenbrand verschluckt zu werden drohen. Dafür muss ich keine Rätsel lösen oder knackige Action-Passagen absolvieren, sondern die richtigen Fragen zu den Antworten stellen, die mir das Spiel offeriert. Bis sich schließlich der Sommer seinem Ende entgegen neigt und das große Feuer all das an sich reißt, was ich nicht festzuhalten vermochte.
Firewatch ist eine einzigartige Erfahrung. Ein Titel, der in seinen knapp vier Stunden Spielzeit wahrhafte und glaubwürdige Persönlichkeiten entwickelt, die – ungeachtet ihrer fehlenden physischen Repräsentation – so viel Charakter, Charme und Identifikationspotenzial aufzeigen, dass ich mich vollkommen in dieser Welt verliere. Jeder Sonnenstrahl, der sich durch die Baumkronen Bahn bricht, vermittelt ein Gefühl echter Wärme und jeder zarte Gitarrentupfer ist mit Bedacht gesetzt, wenn die anhaltende Funkstille zu Delilah unangenehm zu werden droht. Es ist ein Spiel, das sich seiner Stärken bewusst ist und deren volle Wirkungsfähigkeit ausschöpft, ohne dabei je den eingeschlagenen Pfad zu verlassen.
“What’s next? Well, what do you think is next?” – Delilah
Am Ende bin ich davon überzeugt, dass meine erlebte Geschichte nicht alles gewesen ist. Ich hätte mich anders verhalten und andere Fragen stellen können, die mich die präsentierten Antworten anders deuten ließen. Aber das wäre nicht ich gewesen. Ich war Henry, dessen Welt in Flammen stand und der letztlich erkannt hat, dass ein Feuer erst unkontrollierbar wird, wenn man einfach vor ihm davonläuft.
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