Ein ganzes Leben, seine Bedeutung und sein Ende in drei Akten.
In dem Ludum-Dare-Kind Fragments of Him von Sassybot durchlebe ich mittels Point-and-Click die Momentaufnahmen eines Lebens, dessen Ende ich bereits in den ersten Minuten des Spiels beiwohne. Zum ersten Mal geht es in einem Spiel, das ich gespielt habe, nicht darum, was meinen Charakter und mich erwartet, sondern ausschließlich darum, wo er herkam. Ich kann keinen wirklichen Einfluss mehr auf Wills Schicksal nehmen: Was geschehen ist, ist geschehen.
„But briefly we walked together.“ – Will.
Dass es sich ausschließlich um die Vergangenheit handelt, wird durch die verwaschene Optik in Grauschattierungen unterstrichen. Wie bei Erinnerungen ist die Darstellung selektiv. Gesichter sind detailarm. Nur dauerhafte Objekte haben sich gut eingebrannt und werden klarer dargestellt. Die einzigen Farbakzente, die ausschließlich aus den Grundfarben bestehen, markieren die Interaktionspunkte. Doch diese minimalistische Form der Darstellung stört nicht. Darum geht es in dem Spiel nicht. Nicht die Optik des Moments, sondern der Moment selbst und die Erinnerungen daran sind von Belang. Da verzeiht man dann auch, dass in diesen Erinnerungen Will teilweise wie ein Abziehbild von Schwiegermutters Liebling wirkt, denn wer trauert, vermisst verständlicherweise vor allem die guten Seiten des Verstorbenen.
Es gibt nur wenige Momente, die man als Spieler gemeinsam mit Will erlebe. So bin ich etwa dabei, wie er sich an dem Morgen seines Unfalles zur Arbeit fertig macht und lausche ihm, wie er beim Müslimachen über das Leben sinniert. Zumeist jedoch erzählen mir die drei Schlüsselfiguren seines Lebens – seine Großmutter, seine erste College-Freundin, sein Partner – von ihm. Ich sehe ihn durch ihre Augen. Es sind nicht meine Erfahrungen; es sind die kleinen, kostbaren Momente, Fragmente jenes Mannes, den sie verloren haben und die sie nun mit mir teilen.
Momente, die liebevoll, traurig, ärgerlich und vor allen Dingen privat sind. Es fühlt sich an, als werde mir hier etwas Unersetzliches angeboten. Das ist die große Stärke von Fragments of Him: seine Emotionalität und Intimität.
So erfahre ich, wie Wills Großmutter zunächst auf die Homosexualität ihres Enkels reagierte und wie beinahe die Beziehung der beiden daran zerbrochen wäre. Ich erlebe den Abend, an dem seine College-Freundin Sarah mit ihm zusammenkam. Langsam wächst Will so vor meinen Augen von dem kleinen Enkel zu einem jungen Mann heran, bevor ich durch ein erneutes Erleben seines Unfalls daran erinnert werde, dass all dies zu einem längst verlorenen Leben gehört. Harry, Wills Partner, ist es, durch den ich erfahre, wie schmerzhaft es ist, mit all den Erinnerungen an Will zu leben. Gemeinsam mit ihm befreie ich die Wohnung von allen Andenken, bis die Erkenntnis eintritt: wenn auch all diese Erinnerungsstücke verschwinden, was bleibt dann noch von Will außer der verblassenden Erinnerung?
Beim Spielen durchlebe ich entsprechend eine Vielzahl von Emotionen – aber wieso muss Genervtsein von der Steuerung eine davon sein? Warum muss ich wieder und wieder auf den nächsten gelbmarkierten Interaktionspunkt klicken, um den nächsten Satz der Erzählung zu erhalten? Das unterbricht für mich den Fluss der Erzählung und damit auch „den Moment“.
Die Antwort ist einfach: weil das Spiel mich ausbremsen will. Ich soll die Momente aus Wills Leben bewusst wahrnehmen und mich nicht nur durch die Geschichte hindurchklicken. Vielmehr ist jeder einzelne Augenblick wertvoll. Das ist etwas, dass ich durch und während des Spiels erst lernen muss. Dazu sagt mir Will mehr als einmal, dass man den Moment genießen solle, dass man sich dessen bewusst werden sollte, was man in seinem Leben eigentlich will und nicht nur vor sich hin existiert. Auch wenn dies eine Lektion ist, an die man vermutlich nicht oft genug erinnert werden kann: bei der Geschwindigkeit, die das Spiel streckenweise vorgibt, wäre es nicht weiter verwunderlich gewesen, hätte ich Will in Echtzeit drei Minuten beim Zähneputzen zuschauen müssen. Teilweise fällt dadurch die Wirkung im Einzelnen der übergeordneten, nicht zwingend originellen Botschaft zum Opfer.
Doch das Spiel hat neben der beeindruckenden Leistung, mich abzubremsen, noch etwas Weiteres geschafft: es hat mich zu einem Teil seiner Botschaft gemacht. Nur ich weiß, was Will an dem Morgen seines Todes dachte, welche Pläne er für die Zukunft hatte. Nur ich kenne diese Sorgen, diese Wünsche. Keine der anderen drei Figuren wird davon je erfahren. Und so werde ich ein Teil des Spiels, ein weiterer, stiller Bewahrer eines Fragments. Noch lange, nachdem ich das Spiel beendet habe und eindeutiger über meine Kritikpunkte und die Botschaft des Spiels nachgedacht habe, verfolgt mich diese kleine Idee: ich bin mehr, als ein einzelner Mensch je wissen wird und selbst, wenn sich all die Menschen, die mich kennen, zusammen tun, wird es immer Fragmente geben, die niemand kennt und die für immer verloren gehen, wenn mein Spiel endet. Die Dinge jedoch, die ich mit Menschen teile und die sie mit mir teilen, sind all die Teilstücke, die am Ende mich im Ganzen ausmachen. Keines davon darf fehlen, denn sonst wäre ich nicht ich. Genauso geht es den Menschen, die Teile ihres Lebens mit mir teilen. Jedes Fragment, zu dessen Bewahrerin ich werde, erscheint mir nun noch wertvoller. Hoffentlich kann ich in meiner Erinnerung dieser Aufgabe so gerecht werden, wie es Fragments of Him seiner Botschaft wurde.