Game Over: Videospiele erobern die Welt
Videospiele sind ein Massenmedium. Daher sind Videospieler auch kein besonderer Menschenschlag. Videospiele werden konsumiert von Müttern, Töchtern, Stahlarbeitern, Büroknechten, Rollstuhlfahrern, Europäern, Afrikanern, womöglich sogar von den Menschen, die in den wissenschaftlichen Stationen auf dem Südpol leben. Das alles hat Arte nicht davon abgehalten, eine Dokumentation über Spiele zu machen, die sich dem Phänomen gänzlich extraterrestrisch nähert. Sie trägt den Namen Game Over: Videospiele erobern die Welt. Es geht darin um virtuelle Welten, Kulturforscher, die sich Videospielern nähern wie exotischen Tieren, und chinesische Goldfarmer.
Game Over will mir erklären, dass Videospiele eine eigene Welt sind. Spieler beschäftigen sich nicht etwa zum Spaß mit ihrem Hobby, nein, sie wollen in andere Welten eintauchen – virtuelle Welten. Sie wollen fliegen, gegen Aliens kämpfen, Drachen erschlagen oder andere virtuelle Menschen. Sicher ist sich Arte nur in einer Hinsicht: Sie wollen nicht einfach nur unterhalten werden, sie suchen nicht Inspiration oder interessieren sich für das, was ihnen ein Entwickler zu sagen hat. Sie wollen schlichtweg der Realität entfliehen, kopfüber hinein in die Virtualität. Dass dieser Eskapismus Grenzen hat, weiß jeder, der tatsächlich längere Zeit in einem Spiel versunken ist. Spätestens die nett gemeinte Aufforderung, sich doch mal wieder zu duschen, wirkt bei gesunden Menschen wie ein Weckruf. Game Over behauptet nicht explizit das Gegenteil, beschreibt Videospiele aber von Anfang an wie eine Droge – eine, die für normale Menschen zwar schwer zu verstehen ist, die aber eine so verhängnisvolle Wirkung entfaltet, dass es von ihr kein Loskommen mehr geben könnte. Die Dokumentation teilt die Menschheit in zwei Gruppen: Spieler und Nichtspieler.
Während sich Nichtspieler am Ende des Monats über ihren Gehaltszettel freuen, freuen sich Spieler über virtuelles Geld. Gold sei in den meisten Spielen nötig, um voranzukommen, behauptet die Dokumentation. Als Beweis für diese steile These führt Arte eine Gruppe Goldfarmer ins Feld, die den ganzen Tag nichts anderes machen als für verwöhnte Spieler von World of Warcraft Spielgeld zu sammeln. Die Dokumentation spricht aber nicht von World of Warcraft, sie redet von der gesamten Spielebranche, als sei es in jedem Spiel üblich, sich an irgendeiner zwielichtigen Ecke chinesisches Gold zu kaufen. Gleichzeitig verpasst Game Over die Chance, die Niedriglohnbedingungen anzuprangern, zu denen Goldfarmer arbeiten müssen. Deren Job macht schließlich keinen Spaß, sie machen das nicht, weil sie wollen, sie werden dazu teilweise geradezu genötigt. Natürlich nicht bei den Arte-Goldfarmern. Die sind einfach nur hektisch, haben permanent Tränen in den Augen und rauchen – eben auch nur Spieler.
Nachdem sich Game Over an den Goldfarmern abgearbeitet hat, lernt der Zuschauer Vanessa kennen. Vanessa ist 28 und versucht herauszufinden, wer diese verrückten Computerspieler sind, was sie antreibt, wohin sie wollen, welche Ziele sie haben und warum sie eigentlich spielen. Im Zuge ihrer Nachforschungen taucht sie ab in eine virtuelle Welt voller Aliens, Zombies, Orks und Elfen. Vanessa fliegt nach Japan, um herauszufinden, dass es MMOs gibt. Dann scheint es, als könne sich der Film noch wandeln. Der Grund ist ein Interview mit Jenova Chen. Chen ist zusammen mit seinem Studio Thatgamecompany verantwortlich für Flower und Journey. Er kennt die Branche und weiß, was er tut. Umso seltsamer ist es, dass die Arte-Redaktion ihn nur davon sprechen lässt, wie er Spieler dazu bewegen will, in neue Welten abzutauchen.
Was an Game Over am meisten irritiert, ist die fehlende Differenzierung im Umgang mit einem derart vielfältigen und, wie im Film auch selbst festgestellt wird, erfolgreichen Medium. Dass angesichts seiner Verbreitung die Spielerschaft kaum nur aus MMO-Abhängigen, Cosplayern und Goldfarmern bestehen kann, sollte selbst jenen Menschen relativ schnell bewusst werden, die mit der Materie nichts zu tun haben. Trotz der hochgradig einseitigen Berichterstattung und damit verbundenen Einschränkungen, wirkt Game Over dabei nicht einmal in sich stimmig – ganz so, als hätten sich die Verantwortlichen zu kaum mehr als der Flucht in die Virtualität als thematischen Überbau entscheiden können und daraufhin krampfhaft versucht, alle nur erdenklichen Inhalte hineinzupressen. Eine filmische Betrachtung der Goldfarming-Szene in China wäre ebenso interessant gewesen wie ein Portrait aufstrebender Spiele-Studios. So allerdings liefert Game Over nur bruchstückhafte Informationen, denen fast durchweg der fade Beigeschmack von Sensationsgier und Schubladendenken anhaftet.