Gewalt im Zeitalter ihrer virtuellen Reproduzierbarkeit
Immer, wenn aus Anlass aktueller Tragödien Gewaltdarstellung in den Sekundenbruchteilsaufmerksamkeitsradius der Massenmedien fällt, bekommen Games ihr Fett ab. Besonders bei jugendlichen Gewalttätern sieht eine erschrocken-faszinierte Öffentlichkeit plötzlich jenes Medium, das ein Großteil der Heranwachsenden selbstverständlich als das ihre betrachtet, und dieser oberflächliche, nach Ursachen suchende Blick zeigt Erschütterndes: eine ganze Kultur, die um Kopfschüsse in Zeitlupe aufgebaut ist, ein Übermaß an militärischem Fantum samt Verknüpfung zur realen Militärindustrie, eine Welt, in der ein „Leben“ am Bildschirm buchstäblich nichts wert ist, dafür aber Jahr für Jahr neue Realismusrekorde aufgestellt werden, was das besonders detailgetreue Aufschlitzen von Kehlen oder den Einschlag von Hohlmantelgeschoßen in virtuelle Körper angeht.
Der Schritt vom Entsetzen über diese unbekannte Welt des in vielen Köpfen als jugendlich feststehenden Mediums zur Schuldzuweisung ist klein. Natürlich muss diese virtuelle Gewalt eine Wirkung auf ihre Konsumenten haben; jeder, der sie von außen das erste Mal sieht, verspürt diese Wirkung in Form einer spontanen Abscheu. Die Beteuerungen der Spieler, dass dieser Schluss zu kurz greife, verfestigen den Verdacht noch mehr: Wer von den virtuellen Hinrichtungsszenen auf dem Bildschirm nicht mehr erschüttert ist, hat durch Abstumpfung bereits einen Teil seines gesunden menschlichen Empfindens verloren. Kein Wunder, dass auf diesem medialen Schlachtfeld der blinden Schuldzuweisung die Spieler sich verbittert abwenden, reflexhaft mit Rechtfertigungsfloskeln reagieren oder sogar im Sinne eines „Jetzt erst recht“ „ihre“ Kultur des selbstredend harmlosen Splatterns verklären. Die hirnverbrannten Argumente der „Killerspiel“-Gegner haben nur eines bewirkt: Es gibt verhärtete Fronten und kaum produktive Diskussion. Daran sind beide Seiten schuld.
Kultur – auch die Games-Kultur – ist ein Spiegel der Gesellschaft, in der sie entsteht. Die existente mediale Gewaltfixierung, die sich beileibe nicht nur auf das Medium Spiele beschränkt, ist jedoch nicht die Ursache für eine angeblich dadurch gewalttätiger werdende Gesellschaft. Sie ist ein Symptom für eine Gesellschaft, in der reale Gewalt verpönt ist, andere Formen der Gewalt aber allgegenwärtig und sogar systemimmanent sind.
Auf den ersten Blick sieht es nicht danach aus. Wir leben in historisch einmaligen Zeiten: Niemals gab es weniger reale Gewalt auf diesem Planeten. Viel der alltäglichen, stumpfen Gewaltrealität der Welt unserer Vorfahren ist aus unserem Alltag verschwunden – die selbstverständlichen Züchtigungen, das Schlachten der Tiere, die Hinrichtungen an öffentlichen Orten, die Realität des Faustrechts, all diese alltäglichen Gewalterfahrungen sind heutzutage für die meisten von uns, zumindest in der westlichen Welt, nicht mehr existent. Wir leben in einer Welt, in der wir all das vermeintlich hinter uns gelassen haben.
Diese Verdrängung realer physischer Gewalt ist eine große Errungenschaft unserer Zivilisation. Wir haben in Jahrhunderten zunehmend die reale Alltagsgewalt durch ritualisierte Gewalt ersetzt: im Sport, im unpersönlichen Gewaltmonopol des Staates, in den Mechanismen organisierter Kriegführung. Diese ritualisierte und somit geduldete Gewalt spielt sich außerhalb unseres täglichen Lebens ab – innerhalb des Boxrings, auf dem Eishockeyfeld, bei Polizeieinsätzen, auf den Schlachtfeldern in den Abendnachrichten. In unserem Alltag ist Gewalt verpönt, bis hin zur Sanktionierung von Raufereien unter Kindergartenkindern.
Das Verschwinden offener physischer Gewalt heißt aber nicht, dass es in unserem Alltag keine Gewalt mehr gibt: Unsere Hackordnungen, ob auf dem Schulhof oder in der Politik, schlagen psychische Wunden, durch Mobbing, Leistungsdruck, Verachtung für die „Verlierer“ unseres Systems, durch Ausschluss dieser „Verlierer“ an der Teilhabe an dieser Gesellschaft. Wir sind besessen vom Wettkampf und von seinen „Gewinnern“; in den Ikonen unserer Medien, den Hochleistungssportlern, den Stars, Spitzenmanagern und all jenen, die „es geschafft“ haben, sieht der Psychoanalytiker Hans-Joachim Maaz die krankhaften Vorbilder einer „narzisstischen Gesellschaft“ verwirklicht.
Maaz sieht in den Ausschließungsmechanismen dieser „narzisstischen Gesellschaft“ – ganz ohne Verweis auf irgendwelche medialen Einflüsse – die Ursache für explosionsartige sinnlose Gewalt, etwa in Amokläufen: „Die wesentliche Quelle mörderischer Gewalt ist narzisstisch begründete Not. Nicht ausreichend geliebte und bestätigte Kinder müssen sich irgendwie zur Geltung bringen und ihre aufgestaute Wut abreagieren. … Gewaltexzesse sind immer Folge einer psychosozial begründeten Entwicklung, deren Ursache früher Liebesmangel ist, verstärkt und chronifiziert durch fortgesetzte soziale (narzisstisch kränkende) Abwertung, wie sie durch Armut, Arbeitslosigkeit, mangelhafte Ausbildung und fehlende Bestätigungschancen geschieht.“ (S. 202)
Die Amokläufer, die an Schulen ihre Lehrer oder Klassenkameraden töten, reagieren eigentlich höchst plakativ und unmissverständlich auf jene seelische Gewalt, die sie an eben diesem Ort erlebt haben. Dass sie dabei aufs Schrecklichste auf physische Gewalt zurückgreifen, zeigt ihre Ausweglosigkeit. Bis hin zum Suizid. Was hat das noch mit Spielen zu tun? Hat das überhaupt noch etwas mit Spielen zu tun? Ich meine: durchaus. Wir leben – als fast erste Generation – im Zeitalter der virtuellen Reproduzierbarkeit von Gewalt. In Spielen eröffnet sich ein Freiraum für unterschiedlichste Erfahrungen. Nomade zu sein, zu wandern, ist eine davon; stark, bedeutsam und ein „Held“ zu sein, den kurzen Weg der Gewalt gehen zu dürfen, eine andere. Der englische Begriff der „player agency“, schwierig auf Deutsch zu übersetzen, beschreibt dieses Faszinosum: die Macht zu haben, Einfluss zu nehmen, Aktionsgewalt zu besitzen, handeln zu können.
Im Spiel ist eine Welt, die mich als Spieler ernst nimmt und ins Zentrum stellt; nur wegen mir ist sie überhaupt erst da. Spiele bieten deshalb ein weiteres Ventil für unsere Zivilisation: Sie ermöglichen allen, und somit natürlich nicht nur, aber auch jenen, die im realen Leben, in dieser narzisstischen Gesellschaft der hochverehrten wenigen „Gewinner“ zu den unvermeidlichen „Verlierern“ zählen, das Erlebnis der Autorität, der Bedeutsamkeit, die Erfahrung, selbst Einfluss auszuüben, Handlungsmacht zu besitzen.
Dass diese Welt der Spiele Gewalt zum Inhalt hat, ist kein Wunder. Siehe oben: Spiele sind ein Spiegel der Gesellschaft, in der sie entstehen. Die Massenmedien zelebrieren in ihren Nachrichten die Gewalt wegen ihres Verkaufswertes, sie ist selbstverständliches, mit großem Zynismus verwendetes Instrument der Politik, im offenen Konflikt wie auch in ihren Grauzonen, siehe Drohnenkrieg oder „Waterboarding“. Nicht nur Spiele verherrlichen die Gewalt; wir leben in einer Welt, in der reale Gewalt verpönt, aber Gewalt als politisches Instrument, als Konsumprodukt, sogar als Wettbewerbsprinzip unserer Märkte selbstverständlich ist.
Die Möglichkeit, im Spiel symbolisch Dampf abzulassen, seine Aggressionen auszuleben, ein Gefühl von Triumph und Bedeutsamkeit trotz der Virtualität der Umgebung real zu erleben, macht einen wichtigen Teil der Faszination des Mediums aus. Diese Interpretation ist jene der kathartischen Wirkung, das heißt, dass die Möglichkeit virtueller Gewaltausübung zur Stabilisierung der Spieler beiträgt und somit zu weniger realer Gewalt führen kann. So gesehen müsste man Spielen vielleicht eher einen ganz anderen Vorwurf machen: Als Ventil stabilisieren Spiele eigentlich den Fortbestand einer im Kern gewalttätigen narzisstischen Gesellschaft eher, als dass sie sie ins Wanken bringen – wie im alten Rom dienen, so betrachtet, auch heute Brot und Spiele zur Ruhigstellung einer ansonsten möglicherweise unzufriedenen Masse.
Dass jugendliche Amokläufer auch Spieler waren, ist wenig bedeutsam – schließlich sind Spiele ein Massenmedium. Dass aber auch diese Möglichkeiten des Spiels, ihre realen Defizite zu verarbeiten, nicht ausreichend waren und sie die ausbleibende Bestätigung ihrer kranken Seelen im schrecklichen, von den Massenmedien gelieferten „Ruhm“ suchen müssen, macht die Diskussion um die mediale „Auslösung“ jener Taten noch absurder. Spiele, auch und besonders jene abstoßend gewalttätigen, sind das Symptom einer weitergehenden Krankheit, nicht deren Ursache.
Wir leben in einer Gesellschaft, die offiziell physische Gewalt ablehnt – und zugleich die ritualisierte Gewalt in Sport und Nachrichtenbildern legitimiert und verherrlicht. Die real existierende psychische Gewalt ihres „Hochleistungsgesellschaftsbildes“ wird im Gegenzug verleugnet – und ihre „Verlierer“ werden in zunehmender Entsolidarisierung selbst für ihr „Versagen“ verantwortlich gemacht. Dass dafür die virtuelle Gewalt in Spielen, die man auch als notwendiges Ventil für die systemischen Ungerechtigkeiten betrachten könnte, als Sündenbock an den Pranger gestellt wird, ist eigentlich eine besonders bittere Pointe der Gegenwart.