Alte Schule für eine neue Generation.
Ich bin Wilderer und Förster in einem. Friedensbewahrer und Raufbold. Ordnungshüter und Gesetzesbrecher. Totengräber und mein eigener bester Kunde. Ich klicke, und es regnet Blut und Ektoplasma. Und dabei habe ich in Grim Dawn, dem Herzensprojekt des kleinen Studios Crate Entertainment und dem spirituellen Nachfolger des Hack’n’Slay-Geheimtipps Titan Quest, nicht mal einen Namen oder gar eine Vergangenheit. Ich bin vielmehr nur Mittel zum Zweck: der Verhinderung der Auslöschung der Menschheit durch die sogenannten Ätherischen. Eine Rolle, in die meine Spielfigur nur durch Zufall hineinrutscht und das auch noch fast mit dem Leben bezahlt.
Damit ist schon in den ersten Minuten des liebevollen, wenn auch etwas staksig animierten Intros die Grundstimmung für das Endzeit-Actionrollenspiel gesetzt: Als von einem Ätherischen besessener Mensch wollen mich der Vorsteher der Siedlung Devils Crossing, Captain John Bourbon, und seine Gehilfen eigentlich zunächst lynchen. Als das fremde Wesen kurz vor meinem Tod die Kontrolle über mich aufgibt, schießt mich Bourbon aber doch mit zwei wohlgezielten Kugeln vom Strick, und ich stürze zu Boden, in eine willkommene Ohnmacht und letztlich auch Hals über Kopf in die Dienste meines einstigen Henkers.
Die Aufgaben, vor die mich Bourbon und im Verlauf des Spiels noch zahlreiche weitere, mit dem obligatorischen Ausrufezeichen über ihrem Kopf markierte Charaktere stellen, sind eigentlich nicht weiter der Rede wert und gehören zum absoluten Genre-Standard. Sammle Anzahl X von Gegenstand Y, töte Gegner Z, bringe Gegenstand A von Ort B nach Ort C. Immerhin darf ich mich im späteren Spielverlauf zwischen zwei Fraktionen entscheiden und spüre, wenn auch geringe, Konsequenzen für meine Entscheidungen in manchen Quests. Auch die Hauptkomponente des Spiels, das effektvolle Beseitigen von Gegnern, gestaltet sich so simpel wie befriedigend, aber eben auch innovationslos. Ich klicke, ein Untoter zerplatzt und hinterlässt bei einem besonders wuchtigen, den Bildschirm erzittern lassenden Treffer eine riesige Blutwolke. Ich klicke, ein Bandit wird von meinen beschworenen Geisterklingen zerteilt. Ich klicke, der selbstgebaute Molotow-Cocktail lässt ein Rudel wildschweinartige Paarhufer in Flammen aufgehen. All das ist so inszeniert, wie man es aus absoluten Genreklassikern wie Diablo II kennt.
Damit ist Grim Dawn auf eine sehr erfrischende Art enorm altbacken, inklusive dem Ausbruch der obligatorischen Sammelwut von mit zufälligen Boni versehenen Ausrüstungsgegenständen und wahren Horden an Gegnern, die meinen Klickfinger stellenweise ganz schön stark belasten. Die tatsächliche kreative Leistung der Entwickler liegt vielmehr darin, mir das Gefühl zu geben, meinen Charakter ganz nach meinen Wünschen formen zu können. Dabei fehlt zwar ein Charaktereditor – ich darf lediglich das Geschlecht meiner Figur bestimmen – aber das dürfte eine bewusste Designentscheidung sein. Immerhin orientiert sich Grim Dawn doch ganz offensichtlich an der glorreichen Ära der klickwütigen Action-RPGs um die Jahrtausendwende, und da gab es schließlich auch nicht hunderte Bart- und Haupthaarfrisuren zur Auswahl.
Höchst personalisierbar wird es hingegen bei der Charakterentwicklung. In den ersten Spielminuten kann ich eine von sechs Professionen ergreifen, die an Standard-Archetypen angelehnt sind; ab Stufe 10 darf ich eine weitere Klasse wählen, oder die beim Levelaufstieg erhaltenen Fertigkeitspunkte weiterhin nur in eine Profession stecken. Die Fertigkeitenbäume der unterschiedlichen Klassen sind weit verzweigt, die Kombinationsmöglichkeiten schier endlos. Dank des Devotion-Systems, in dem ich die Punkte, die ich durch die Entdeckung von in der Spielwelt Cairn verteilten Schreinen erlange, auf verschiedenste Sternbilder und dazugehörige Boni verteilen kann, erhält die Personalisierung meiner Spielfigur weitere Tiefe. Tüftler und Build-Optimierer werden somit lange mit Grim Dawn beschäftigt sein.
Was mich persönlich jedoch am meisten überzeugt, ist das unheimlich stimmungsvolle Setting. Zwar dreht sich in Grim Dawn auch alles um den bevorstehenden Niedergang der Menschheit durch eine Horde geisterhafter Invasoren, wie eben auch in unzähligen anderen Spielen. Die Idee, all das in ein zerbröckelndes Steampunk-Universum zu verfrachten, ist allerdings eine ziemlich gute. Für die Erforschung der abgelegenen Winkel der großen, düsteren Spielwelt belohnt mich das Spiel mit exzellent gestalteten Tableaus und den stimmig in Szene gesetzten Ruinen einer in Vergessenheit geratenen und dem Verfall überlassenen Welt. Die Kombination aus archaischen Schusswaffen und mächtiger Magie hat mich schon bei Arcanum gereizt, die weitaus düsterere Auslegung durch Grim Dawn nimmt mich allerdings deutlich stärker gefangen.
Wer will, kann Grim Dawn als spaßigen Pausenfüller spielen und sich zwischendurch lediglich von Quest zu Quest hangeln um dann wieder eine Pause einzulegen. Denn der Rhythmus an Riftgates, die als Wegpunkte und Teleporter fungieren, und die Möglichkeit, jederzeit selbst temporär solche Portale zu erschaffen, macht das Spiel auch für Gelegenheitsspieler interessant. Aber auch Excel-Junkies und Planer-Naturen sollten aufgrund der minutiös auf den eigenen Spielstil zuspitzbaren Klassen mit dem Hack’n’Slay der alten Schule ihre helle Freude haben. Auch ich bleibe gerne weiterhin Förster, Totengräber, Ordnungshüter und Friedensbewahrer. Nur noch bis zur nächsten erfüllten Quest und zum nächsten ausgekundschafteten Landstrich. Oder zum übernächsten.
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