Du, dein neuer Halbbruder, dein bester Freund, Nona und Clarissa trinken am Strand. Oh, und Geister.
Oxenfree ist die Geschichte von Alex, Ren, Jonas, Nona und Clarissa und beginnt wie ein typischer Slasherfilm: Eine gemischtgeschlechtliche Gruppe Highschoolabsolventen verbringt eine Nacht an einem einsamen Strand, um Alkohol zu trinken, Haschkekse zu futtern und “Wahrheit oder Backpfeife” zu spielen. In einer nahgelegenden Höhle erwecken sie unabsichtlich etwas Mysteriöses, und wenn ihr noch mehr gespoilert kriegen wollt, guckt ein Let’s Play.
So euch der Name ebenso ratlos dastehen lässt wie mich, leistet wie immer Wikipedia Abhilfe, erklärt sie doch, dass es Teil eines Versteckspielsspruchs ist, der am Ende einer Partie gerufen wird, um allen noch Versteckten zu signalisieren, dass sie jetzt rauskommen können, also das Gegenteil von “Eckstein, Eckstein, alles muss versteckt sein”. Kinderreime und -ausdrücke funktionieren im Englischen prima im Schauerkontext, im Deutschen fehlt meines Erachtens nach diese Konnotation – zumindest ich kann mir schwerlich eine Gruselgeschichte namens “Hamme” oder “Klippo” vorstellen.
Es mag eine vortreffliche Fügung des Schicksals sein, dass nicht nur die erste Hälfte des namensgebenden Satzes ebenfalls ein klasse Spiel ist, sondern sie auch in einer gutbestückten Steambibliothek alphabetisch direkt hintereinander stehen, aber möglicherweise ist es auch eine Indieverschwörung zur Unterwanderung der digitalen Welt durch Real-und-Draußen-Spiel-Nomenklaturen, abhängig allein von der Menge an Leichtmetall in euren Kopfbedeckungen.
Zurück zum Spiel: Alex, unsere Protagonistin, versucht, sich und ihre Freunde heil von der Insel zu bringen und nebenher herauszufinden, was es mit diesem Spuk auf sich hat. Um dieses Ziel zu erreichen, ballert ihr euch durch zwölf Areale voller Kanonenfutter, Endgegner und Bonusräume. Nee, sorry, falsches Spiel.
In echt lauft ihr mit einem ihrer Freunde über die Insel, bewaffnet nur mit der Taschenlampen-App eures Handys und einem Handsprechfunkgerät, das auf Edwards Island weitaus wertvoller ist als man meinen würde. Es gibt kaum Rätsel, keine Gegner, keine Fallgruben mit gespitzten Speeren oder Zeitlimits – der Fokus Oxenfrees liegt eindeutig auf der Geschichte und den temporeichen Dialogen. Die sind angenehm natürlich geschrieben, hervorragend gesprochen und unterbrechen nie die Handlung, weil die Wahl der Antworten unabhängig vom Gehen/Klettern/etc. gesteuert wird. Und wenn man keine Ahnung hat und deswegen einfach mal die Schnauze halten oder halt das Klischee des stillen Protagonisten pflegen will, ist auch das jederzeit möglich.
Das führt gleich zu meinem größten Problem mit dem Spiel: Ich bin zu höflich. Um selber etwas zu sagen, ist es oftmals nötig, den anderen Sprecher zu unterbrechen, und dabei fühlte ich mich stets schlecht. Oxenfree behandelt jeden Dialog wie eine Eheschließung, so nach dem Motto “der möge jetzt sprechen oder für immer schweigen”. Stressig.
Alex’ Dialogwahl beeinflusst die Sympathie ihrer Freunde ihr gegenüber, aber so richtig hab ich nicht verstanden, wie das kommuniziert wird. In einigen Momenten sieht man Denkblasen mit dem Gesicht von Alex oder einem der anderen Menschen über den Köpfen der Gesprächspartner auftauchen, aber wenn es unterschiedliche Versionen für “Mag ich jetzt mehr” und “Mag ich jetzt weniger” gibt, hab zumindest ich das nicht erkennen können. Jedoch lässt es sich in den meisten Fällen ganz gut aus dem Kontext schließen, so die eigene emotionale Intelligenz nicht total verkümmert ist.
Die einzige Aktion außer Sprechen und Spazieren, ist das Durchschalten der Frequenzen des Radios, und in einer schöneren Welt hätte ich dafür einen Drehknopf wie in Panoramical. Mit der Maus wieder und wieder nach links oder rechts wischen weckte zwar nostalgische Erinnerungen ans X-Wing-mit-Maus-Spielen, aber angenehm ist anders. Überhaupt ist die Steuerung für Linkshänder am PC uncool und unveränderbar, aber so ist das halt als Minderheit. Hat jetzt nicht so gestört, zugegeben.
Dadurch, dass ich bisher die eigentliche Thematik komplett ausgespart habe, könntet ihr den Eindruck gewinnen, dass es sich bei Oxenfree um ein Horrorspiel handelt. Dem ist nicht so. Zum einen sorgt der (visuelle) Abstand zu den Figuren sowie deren Detailarmut, die keine Mimik zulässt, schon für einen gewissen (emotionalen) Abstand; zum anderen verzichtet es auch komplett auf cat scares, plötzliche LAUTE GEIGEN und Splatter. Was die Geschichte um Geister, mysteriöse Radiofrequenzen, Besessenheit und Zeitschleifen aber erzeugt, ist ein Gefühl von Unbehagen, was deutlich schwerer ist als einfach regelmäßig BUH! zu machen. Eine Schaueratmosphäre, die auf offensichtliche Schocker weitestgehend verzichtet. Dennoch war ich etwas erstaunt über die relative Entspanntheit der Protagonisten – ich wäre schon in dem Moment zu einem katatonischen Häufchen Elend mutiert, in dem ich merkte, dass meine Handyselfies zu Polaroids werden.
(Oh, wenn euch die obigen Thematiken gefallen, möchte ich an dieser Stelle kurz Banshee Chapter empfehlen: Auch Indie-Creepyness, nur eben als Film. Ohne Teenagerbefindlichkeiten, dafür mit einem coolen Hunter-S.-Thompson-Ersatz.)
Oxenfree ist kein langes Spiel. Eine gute Entscheidung, bedenkt man das gemächliche Erzähltempo. So das Spiel auch weitestgehend geradlinig verläuft, haben eure Entscheidungen dennoch Auswirkungen auf das Ende. Wie in The Walking Dead gibt es am Ende eine prozentuale Nennung, wie viele andere Spieler die gleichen Entscheidungen trafen wie ihr (ich war zu meiner Enttäuschung stets Teil der großen Masse). Das begleitende Kuchendiagramm vermittelte, wenn ich es richtig las, deutlich mehr Möglichkeiten als ich annahm. Wie unterschiedlich die Enden wirklich sind, wird ein weiterer Durchlauf zeigen.
So spannend und schaurig die Geschehnisse um Edwards Island, ihre Bewohner und Vergangenheit und dem, was geweckt wurde, auch sind, fesselte mich die persönliche Ebene dennoch mehr. Besonders möchte ich das Verhältnis von Alex zu ihrem frischgebackenen Halbbruder Jonas hervorheben, schlichtweg weil das eine Situation ist, die so in Spielen sehr selten thematisiert wird. Beziehungen entstehen, wenn man gemeinsam etwas fühlt, und das ist für mich stets interessanter als der Auslöser. So man auch über manche der fünf nicht so viel erfährt wie ich es mir gewünscht hätte, mag ich das Spiel eben genau aus diesem Grund: Schlussendlich ist Oxenfree die Geschichte von Alex, Ren, Jonas, Nona und Clarissa.