Papers, Please

In einem anderen, gerechten Universum wäre Papers, Please nicht einfach nur eines dieser kurzzeitig gehypten Indie-Spiele über Bürokratiekritik, humane Stempelmaschinen und tragische Migrationsschicksale. In einem anderen, gerechten Universum wäre Papers, Please der Meilenstein unserer digitalen Spielekultur. Unser aller Horizont wäre erweitert. Unser aller Reflexionsvermögen wäre gestärkt. Unser aller Herz wäre reiner. Was wäre, wenn nicht etwa Pac-Man oder Donkey Kong damals die ausschlaggebenden Highscore-Wettkampfarenen dargestellt hätten, sondern Papers, Please? Es folgt eine Spekulation.

Protokoll – Timed Course 1 – Weltrekordversuch

  • Ziel: 45 Stempel
  • Zeitraum: 10 Minuten; geteilt durch 45 Stempel ergibt rund 13,3 Sekunden pro Stempel.
  • Beginn
  • Positionierung: Einlass beginnt, Rollladen hochfahren, aktuelle Liste mit den gesuchten Kriminellen nach links legen, daneben das offizielle Administrationshandbuch mit dem Regelwerk.
  • Person 01: Andrea Lovoska. Kein Zutritt; Grund: Auf dem Ausweis steht männlich.
  • Person 02: Amilia Groezinger. Keine Auffälligkeiten. Zutritt gestattet.
  • Person 03: Czartina Arkowska. Kein Zutritt; Grund: Auf der Eintrittsberechtigung kein Siegel auffindbar.
  • Person 04: Hana Rystaw. Kein Zutritt; Grund: Eintrittsberechtigung bereits abgelaufen.
  • Person 05: Jan Vogeleski. Keine Auffälligkeiten. Zutritt gestattet.
  • Person 06: Samuel Schmitt. Kein Zutritt; Grund: Fehlende Dokumente (Eintrittsberechtigung).
  • Person 07: Romain Longueiv. Kein Zutritt; Grund: Gesuchter Krimineller.
  • Person 08: Erika Fortin. Kein Zutritt; Grund: Auf dem Ausweis steht männlich.
  • Person 09: Ovski Orsonthin. Kein Zutritt; Grund: Auf der Eintrittsberechtigung findet sich ein gefälschtes Siegel.
  • Person 10: Elisabeth Klevena. Kein Zutritt; Grund: Auf dem Ausweis findet sich ein nicht zutreffendes bzw. nicht aktuelles Foto.
  • Zwischenbilanz: 127 Sekunden für zehn Stempel benötigt. Gutes Ergebnis.

Man stelle sich eine alternative Realität vor, die unserer Welt bis zum Jahr 1959 komplett nachempfunden ist. Die Spannungen zwischen den kommunistischen und kapitalistischen Weltbildern ist unerträglich. Auf der Insel Kuba herrscht nun nach der Revolution Fidel Castro. Der Kalte Krieg spaltet weiterhin die Menschen und erhitzt die Gemüter. All das ähnelt unserer Welt, nur einige Menschen werden bereits 1959 geboren: Lucas Pope und eine Hand voll spielfreudiger Kinder, darunter auch meine Person. Und noch eine weitere Begebenheit hat sich geändert: Der sowjetische Satellit Sputnik 1 — der erste seiner Art, der am 04. Oktober 1957 den Start in das Raumfahrtzeitalter einläutete — schockierte die westliche Welt nicht nur, sondern traumatisierte sie. Die Wissenschaft wollte sich für den Ernstfall eines atomaren Schlags seitens der Sowjetunion mit einem abgesicherten Kommunikationsmittel wappnen. Es entstand das, was wir heute als das Internet kennen; nur schon viel früher, bereits Ende der 1960er-Jahre wurde es öffentlich zugänglich gemacht.

Der junge Lucas Pope engagiert sich schon früh in den noch unbekannten Weiten der digitalen Landschaft. Er interessiert sich für Programmierung, für Spiele und ihre Ästhetik. Das in dieser Realität bereits 1962 herausgebrachte Pong und andere Spiele schlagen ihn in ihren Bann, doch die simple “Ja”/”Nein”-Spielstruktur interpretiert er als ein Abbild des Weltgeschehens. Alles erscheint in Schwarz und Weiß. Der Osten ist böse, der Westen gut. 1 und 0. Wo aber bleiben die Grauzonen? Ist immer alles so einfach?

  • Person 11: Sonia Ribeiro. Kein Zutritt; Grund: Fehlende Dokumente (Eintrittsberechtigung).
  • Person 12: Paige Williams. Kein Zutritt; Grund: Eintrittsberechtigung bereits abgelaufen.
  • Person 13: Laurence Hamilton. Keine Auffälligkeiten. Zutritt gestattet.
  • Person 14: Halhar Infigar. Keine Auffälligkeiten. Zutritt gestattet.
  • Person 15: Alyssa Buchanan. Keine Auffälligkeiten. Zutritt gestattet.
  • Person 16: Asger Tjell. Kein Zutritt; Grund: Ausweis ist gefälscht (“Haihen”).
  • Person 17: Thomas Rotrekl. Kein Zutritt; Grund: Die von ihm gemachten Angaben bezüglich der Aufenthaltsdauer stimmen nicht mit denen der Eintrittsberechtigung überein.
  • Person 18: Zacaria Marlov. Kurzfristig Zweifel an der Übereinstimmung mit der auf dem Ausweis abgebildeten Person gehegt. Aber keine Auffälligkeiten. Zutritt gestattet.
  • Person 19: Peter Kiraly. Kein Zutritt; Grund: Die Personenidentifikationsnummer auf dem Ausweis stimmt nicht mit der auf der Eintrittsberechtigung überein.
  • Person 20: Yames Hanslaki. Kein Zutritt; Grund: Auf dem Ausweis findet sich ein nicht zutreffendes bzw. nicht aktuelles Foto.
  • Zwischenbilanz: 267 Sekunden für 20 Stempel benötigt. Durchschnittsstempelgeschwindigkeit reduziert sich. Eben noch 12,7 Sekunden pro Stempel, nun 13,35 Sekunden pro Stempel. Potenzielle Gefahr für die Zielsetzung entdeckt.

“The communist state of Arstotzka has ended a 6-year war with neighboring Kolechia and reclaimed its rightful half of the border town, Grestin.”

1981: Pope ist nun 23 Jahre alt, studiert Politikwissenschaften, lebt in den USA. Die durch Nachrichtenbilder vermittelten Kindheitserinnerungen an die Kuba-Krise, des Berliner Mauerbaus, des Vietnamkriegs, der Ermordung Kennedys, Malcolm X’ sowie Martin Luther Kings, aber noch von vielen weiteren Ereignissen brannten sich in sein Hirn hinein. Ost und West bleiben gespalten, er sucht weiterhin nach den Schlupflöchern. Dieses innere Gefängnis der Menschen muss doch zu bekämpfen sein, denkt er. Man müsste eine neue Perspektive annehmen. Sein innerer Drang zur Selbstäußerung mündet in eine Idee: Ein politisches Computerspiel, das alles anders macht, indem es einen anderen Blickwinkel vorgibt. Papers, Please entsteht. Zwei Jahre wird er daran bis zur Erschöpfung arbeiten. Im August 1983 erscheint Papers, Please.

Es entsteht ein Spiel, das als Szenario ein Passkontrollhäuschen an der Grenze eines sowjetischen Fiktivstaates namens Arstotzka setzt. Tagtäglich strömt eine Hundertschaft an Menschen herbei, um die Grenze zu passieren und Arstotzka zu durchkehren, zu besuchen, darin zu leben oder dort zu arbeiten. Die SpielerInnen müssen nun versuchen zu entscheiden, ob ein Einlass gewährt wird oder nicht. Pässe können ablaufen oder gefälscht sein, Angaben über Aufenthaltsdauer und -grund können sich widersprechen, Dokumente können fehlen. Als wäre diese Masse an zu treffenden Entscheidungen nicht genug, geschieht all das noch unter Zeitdruck. Wer für die Unterkunft und Verpflegung der eigenen Familie selbstständig aufkommen will, muss eine hohe Menge an Pässen abarbeiten. Jede falsche Zulassung oder Verweigerung wird unter Strafe gestellt und vom Lohn abgezogen. Bis hierhin könnte man noch vermuten, dass Papers, Please auf die “Ja”-“Nein”-Dynamik von Pong setzt. Doch das ist nur teilweise richtig.


  • Person 21: Malvina Zewska. Keine Auffälligkeiten. Zutritt gestattet.
  • Person 22: Irma Dutorovska. Kein Zutritt; Grund: Fehlende Dokumente (Eintrittsberechtigung).
  • Person 23: Anna Chulkova. Kein Zutritt; Grund: Das Geburtsdatum auf dem Ausweis stimmt nicht mit dem auf der Arstotzka-BürgerInnen-Identifikationskarte überein.
  • Person 24: Bele Grandir. Kein Zutritt; Grund: Auf der Eintrittsberechtigung findet sich ein gefälschtes Siegel.
  • Person 25: Sana Sidikova. Keine Auffälligkeiten. Zutritt gestattet.
  • Person 26: Mikhail Nikulescu. Keine Auffälligkeiten. Zutritt gestattet.
  • Person 27: Svetlana Torvska. Kein Zutritt; Grund: Die Personenidentifikationsnummer auf dem Ausweis stimmt nicht mit der auf der Eintrittsberechtigung überein.
  • Person 28: Katrina Saxton. Kein Zutritt; Grund: Auf dem Ausweis findet sich ein nicht zutreffendes bzw. nicht aktuelles Foto.
  • Person 29: Yoanna Olburkova. Kein Zutritt; Grund: Ausweis bereits abgelaufen.
  • Person 30: Erik Hvid. Keine Auffälligkeiten. Zutritt gestattet.
  • Zwischenbilanz: 401 Sekunden für 30 Stempel benötigt. Durchschnittsstempelgeschwindigkeit weiterhin kritisch (13,37 Sekunden pro Stempel). Baldige Besserung notwendig.

Schließlich würzt Lucas Pope das Bürokratiespektakel mit moralischen Fragen wie der danach, ob man ein immigrierendes Ehepaar voneinander trennen darf, nur weil die Frau die Zulassungsberechtigung nicht dabei hat. Oder inwiefern die Rache eines Vaters an dem Mörder seiner Tochter nachvollziehbar ist. Oder ob Terroranschläge das Profiling einer bestimmten Nationalität berechtigen. Oder ob man das Geschlecht von Menschen tatsächlich mit einem Nacktscanner bestimmen darf; von der Bewertung des biologischen Geschlechts als ausschlaggebender Faktor mal ganz zu schweigen. Fragen über Fragen, die eine einzelne Person kaum alleine entscheiden kann — aber muss. Die Bewältigung dieser Entscheidungsmasse führt zu einem von 20 verschiedenen, freispielbaren Enden.

Doch Pope war gerissen und hat die sich entwickelnde Tendenz der Highscore-Knackerei bemerkt. Die populären Spiele Pac-Man oder Donkey Kong wurden erst wenige Jahre zuvor veröffentlicht und lösten einen Ansturm an den Arcade-Automaten aus. So integrierte Pope einen eigenen Endless Mode, in dem unter bestimmten Bedingungen so viele Pässe so schnell wie möglich korrekt abgestempelt werden mussten. Die Menschen waren begeistert von dieser Art der Unterhaltung — darunter auch meine Wenigkeit –, die Fachpresse jubelte. Ein politisches Computerspiel, das auch noch Spaß macht. Bis dato ein Ding der Unmöglichkeit. Während Billy Mitchell noch den Rekorden für die Automaten mit dem gelben Fresssack und den rollenden Fässern nacheiferte, entschied ich mich für die Lust durch Monotonie. Ich wurde ein Papers, Please-Besessener. Acht Stunden täglich saß ich an dem virtuellen Stempelgerät. Mein Ziel: Der Weltrekord in Timed Course 1.


  • Person 31: Sofia Lourenco. Kein Zutritt; Grund: Ausweis ist gefälscht (West Grestin befindet sich nicht in Impor, sondern Kolechia).
  • Person 32: Dmitriy Pshoul. Kein Zutritt; Grund: Gesuchter Krimineller.
  • Person 33: Erikha Kefenova. Keine Auffälligkeiten. Zutritt gestattet.
  • Person 34: Bretartay Dunivant. Kein Zutritt; Grund: Auf dem Ausweis steht männlich.
  • Person 35: Annie Banttari. Kein Zutritt; Grund: Die Personenidentifikationsnummer auf dem Ausweis stimmt nicht mit der auf der Eintrittsberechtigung überein.
  • Person 36: Stephanie Adamarin. Keine Auffälligkeiten. Zutritt gestattet.
  • Person 37: Ivana Wilsoska. Keine Auffälligkeiten. Zutritt gestattet.
  • Person 38: Adam Kreczmanski. Keine Auffälligkeiten. Zutritt gestattet.
  • Person 39: Thomas Elijah. Keine Auffälligkeiten. Zutritt gestattet.
  • Person 40: Almendra Tamariz. Legt ihren Ausweis erst auf Nachfrage vor, dadurch erhebliche Verzögerung. Ansonsten keine Auffälligkeiten. Zutritt gestattet.
  • Zwischenbilanz: 540 Sekunden für 40 Stempel benötigt. Durchschnittsstempelgeschwindigkeit liegt bei kritischen 13,5 Sekunden pro Stempel. Nur noch eine Minute verbleibend. Weltrekord von 45 Stempeln äußerst unwahrscheinlich.

Ich hänge seit Tagen bei der magischen 44-Stempel-Grenze fest, mit zwei anderen mir bislang nur online bekannten Gestalten unter den Pseudonymen deadfish und sbrich. Dennoch übt diese Spielweise eine Faszination auf mich aus, wie ich sie selten erlebt habe. Bei Papers, Please geht es nicht nur darum, die Bestände aus einer riesigen Datenbank abzugleichen. Es ist viel eher ein Spiel mit der Datenbankästhetik — sowohl die Positionierung der mannigfaltigen Dokumente als auch die Erkenntnis über unterschiedliche Formulierungsarten (“few weeks” für “a month”, die Differenz zwischen der Validität von biologischem und selbstbestimmtem Geschlecht, die leichten Unähnlichkeiten zwischen Passbild und aktueller Erscheinung, etc.) sind die ausschlaggebenden Faktoren für den Sieg.

Meine Augen huschen nur noch über die Pässe, wieder und wieder. Schemenhaft versuche ich alles in Windeseile zu erkennen. Sind Siegel vorhanden und korrekt, wurden alle Angaben wahrheitsgemäß wiedergegeben, kurzum: Ist ein einziges Zeichen — egal ob textueller, formeller oder bildhafter Natur — falsch? Das ist die Prämisse von Papers, Please.


  • Person 41: Anna Franger. Kein Zutritt; Grund: Die von ihr gemachten Angaben bezüglich des Aufenthaltsgrunds stimmen nicht mit denen der Eintrittsberechtigung überein.
  • Person 42: Helena Jakobi. Keine Auffälligkeiten. Zutritt gestattet.
  • Person 43: Jakira Plutentovska. Kein Zutritt; Grund: Ausweis ist gefälscht (“Shingletin”).
  • Person 44: Yohanis Omnik. Kein Zutritt; Grund: Auf der Eintrittsberechtigung kein Siegel auffindbar.
  • Person 45: Justina Crag. Wurde noch aufgerufen und abgelehnt, doch die richtige Wertung fließt aufgrund der bereits verstrichenen Zeit nicht in die Wertung ein.
  • Bilanz: Kein alleiniger Weltrekord. Das nächste Mal vielleicht.

Und so scheitere ich ein weiteres Mal an meinem eigenen Anspruch. Nach sieben Stunden in der Nacht gebe ich am 06. September 1983 auf. Es ist vorerst genug. Dennoch bin ich froh um dieses Spiel, egal was für einen Wahnsinn es mir abverlangt. Endlich wird über Transphobie in den Medien diskutiert, das Feindbild des bösen Sowjetstaates und mit ihm auch die Wahrnehmung anderer Nationalitätsgebilde werden endlich auch im Spielejournalismus hinterfragt, Computerspiele als digitales Kultur- und Unterhaltungsgut endlich wahrgenommen. Das alles hätte Papers, Please als Meilenstein der Computerspielgeschichte bewirkt — in einer alternativen Realität um 1983, in der nicht nur die Highscores allein zählen. In diesem Sinne:

Glory to Arstotzka!