Papo & Yo
In der aktuellen Spiele-Landschaft ist ein offensichtlicher Trend zu erkennen: Es erscheinen vermehrt Spiele, die mehr Emotionen in mir wecken zu vermögen, als den reinen Spaß am Spiel. Spiele, die unangenehme, ernstere Töne anschlagen. Es sind Spiele von Entwicklern, die “Unterhaltung für Erwachsene” meinen, aber dabei nicht automatisch an mehr Blut und überbordende Gewalt denken. Es sind Projekte wie das “The Walking Dead“-Adventure von Telltales, Spec Ops: The Line, Journey oder aktuell das PSN-exklusive Indie-Spiel Papo & Yo.
Das Debüt von Minority Media hat mich berührt und zum Nachdenken angeregt, denn Studio-Gründer Vander Caballero verarbeitet in diesem ca. 3-4 Stunden dauernden Puzzle-Plattformer seine Kindheit mit einem alkoholsüchtigen Vater. Im Gegensatz zum eher träumerischen und für alle Interpretationen offenen Journey legt Caballero von der ersten Sekunde an klar auf den Tisch, um was es ihm geht. Das Spiel beginnt mit folgender Danksagung:
Klar, das Papo & Yo ist eine Metapher, eine persönliche Verarbeitung dieser Erlebnisse, Gefühle und Ängste dieser Kindheit – Caballeros Kindheit. Die Widmung stellt vor dem ersten Knopfdruck ganz klar die Regeln fest:
Lieber Spieler, stell’ Dich bitte darauf ein: Das ist kein Spiel, welches Dir ein paar unbesorgte Stunden Unterhaltung bieten möchte. Ich will etwas von Dir. Ich möchte Dir etwas mitteilen, mich künstlerisch mit diesem für mich wichtigen Thema auseinandersetzen und es wird unter Umständen auch traurig und unangenehm für Dich werden. Vielleicht geht es Dir danach sogar schlechter als vorher, weil ich Themen anspreche, die auch in Dir Erinnerungen wecken oder Gefühle aufwühlen können. Aber ich würde mich freuen, wenn Du mich begleitest und mir Deine Zeit schenkst, um mir zuzuhören.
Wenn man sich nach der Einleitung, in der man einen Jungen namens Quico vor besagtem Vater in einen Schrank flüchten sieht, in der Traumwelt des Spieles wiederfindet, ist aller Kummer und jeglicher Horror verflogen. In diesen bunten und menschenleeren, an brasilianische Favelas erinnernden Straßenzügen, gibt es scheinbar keine Gefahr. Die Sonne scheint und der kleine Spielzeug-Roboter des Jungen kann in dieser Welt selbstredend seinen Düsenantrieb dazu nutzen, um dem Jungen weite Sprünge zu ermöglichen. Häuser können zu fantastischen, jeglichen Naturgesetzen widersprechenden Wurmbauten zusammengesetzt werden, um Abgründe zu überwinden und Zahnräder aus Kreide setzen ganze Häuserzüge in Bewegung. Doch schnell trifft der Junge auch in dieser Welt auf “Das Monster”: Ein rosanes, friedliches und gemütliches Fabelwesen, optisch eine Mischung aus Orang-Utan und Nashorn, mit einem großen Kugelbauch und immens großen Schlafbedürfnis.
Angst hat Quico nicht. Im Gegenteil, der Junge braucht das Monster, lockt es gar aktiv mit Spuren aus Früchten hinter sich her, um auf es zu klettern und höher gelegene Stellen erreichen zu können. Es wird klar, dass Junge und Monster eine innige Beziehung haben und sich einander brauchen. Wären da nicht die Frösche, die aus der Kanalisation gekrochen kommen und sofort die volle Aufmerksamkeit des Monsters auf sich ziehen. Diese Frösche wirken bei Verzehr wie Gift auf das Monster und es verwandelt sich in ein feuriges, wütendes und unkontrollierbares, dämonenhaftes Wesen, welches seine Wut und Aggression auch vor dem Jungen nicht mehr bremsen kann und auslebt.
Trotz dieser sehr offensichtlichen Metapher bleibt das Spiel in diesem Teil sehr viel Spiel und man rätselt sich durchaus kurzweilig, aber ohne große Mühe durch die Welt. Ziel ist es schließlich, an einem mysteriösen Tempel anzukommen, an dem der Junge seinen Roboter heilen möchte, der in einem der Kämpfe mit dem Monster zu Bruch gegangen ist. Was hier passiert, muss man selber erleben und sehen, aber so viel sei gesagt: Dieses Finale ist eines der einfühlsamsten und persönlichsten, die ich in einem Videospiel bisher erlebt habe. Nach dem Abspann saß ich noch eine Zeit lang ruhig und mit nachdenklichem Blick vor meiner Konsole und ließ mich in die wohlige, friedliche Melancholie dieser Atmosphäre fallen.
Ich machte mir Gedanken über die Aussage dieses Endes — über Caballeros Offenheit und Umgang mit diesem Thema und natürlich auch meine eigene Kindheit. Ich dachte über die Beziehung zu meinen Eltern nach und begann große Dankbarkeit darüber zu spüren, dass meine Kindheit so wohlbehütet und harmlos verlief im Vergleich zu dieser eben gezeigten. Ich mag und kann mir nicht vorstellen, was dieses Spiel, speziell dieses Ende, in Spielern auslöst und in Bewegung setzt, die sich in Caballeros Lage aus eigener Erfahrung hineinversetzen können. Umso wichtiger erscheint mir daher der klare Hinweis zu Beginn des Spiels. Keiner sollte “aus Versehen” und ohne Vorwissen in diese Gefühlswelt geschubst werden, ohne dies selbst zu wollen. Ein “Twist”, der erst am Ende alles aufdeckt, wäre hier fehl am Platz.
Reaktionen auf das Spiel
Irritiert und mit Wehmut nahm ich in den darauffolgenden Tagen den Umgang der Spielepresse mit dem Spiel wahr. Wenn eine EDGE, die sich oft und nicht zu knapp als Leitmedium der Branche sieht und auch so präsentiert, diesem “Spiel” eine 4/10 gibt, dann frage ich mich wirklich, ob ich dieses Magazin noch länger als Aushängeschild akzeptieren kann und will. Mir geht es selbstredend nicht um die Höhe der Wertung, sondern darum, dass hier überhaupt mechanische Wertungskriterien in Betracht gezogen werden. Noch persönlicher kann ein Spiel kaum noch werden, selten war ein Spiel künstlerischer und emotionaler. Aber auch von einer GamePro oder den geschätzten Polygon-Autoren beim Vorzeigeblog The Verge hätte ich mehr Mut erwartet, einfach mal keine Wertung zu geben. Diese zarte Parabel, welche in den Texten jeweils auch in höchsten Tönen gelobt wird, wird durch technische und spielerisch vermeintliche Unzulänglichkeiten in der Objektivitäts-Mühle der Wertungsgeber vernichtet und im Keim erstickt. Warum? Mit welchem Gewissen kann man einem Spiel, das man im Meinungskasten so eben mit folgenden Aussagen in den höchsten Tönen gelobt hat, nicht seinen Lesern empfehlen?
Wegen ein paar technischer Fehler (die übrigens zur Release-Version alle ausgebessert wurden), einer “schwammigen Steuerung” und der Dauer des Spiels? Weil es nicht Spiel genug ist? Und nein, 4/10 Punkte bzw. eine 68%-Wertung werden auch mit einem noch so positiven Fazit-Kasten nicht dazu beitragen, dass sich Indies wie Caballero so ein Spiel ein zweites Mal trauen.
Ja, es ist ein eindeutiger Trend in der Spielelandschaft auszumachen: Es passiert immer öfter, dass ich traurig und geknickt vor dem Monitor zurückbleibe.
Weiterführend sei noch mein Frühstücks-Podcast zum Spiel empfohlen, den ich zusammen mit Volker Bonacker aufgenommen habe, der zum Spiel einen sehr lesenswerten, persönlichen Text verfasst hat.