Random Encounters: Kissing Time

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Ich habe in den letzten 60 Sekunden 126 Menschen geküsst. Und dabei fünfmal meine Geschlechtsidentität gewechselt. Was selbst dem ambitioniertesten und flexibelsten Knutschkünstler im Alltag kaum gelingen dürfte, lässt das treffend betitelte Kissing Time spielend leicht erscheinen. Zu Beginn würfelt der kurze, rasante Arcade-Titel ein Geschlecht sowie eine von drei sexuellen Orientierungen aus. Gleich danach beginnt der Wettlauf gegen die Zeit: Klicke ich auf Partner_innen, die in mein jeweiliges Beuteschema fallen, erhalte ich Punkte – treffe ich hingegen die falschen oder hadere zu lange, ist das Spiel umgehend vorbei.

Immer schneller und schneller ploppen die Gesichter meiner potenziellen Romanzen auf und das Geschehen wird nicht zuletzt durch visuelle und auditive Reize zunehmend hektisch. Ein offizielles Ende fernab des Game-Over-Schriftzug scheint es nicht zu geben, es wird einfach weiter im Akkord geknutscht und gezüngelt.

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Was sich zunächst als witziges Konzept präsentiert, verliert schnell seinen Reiz und hinterlässt einen faden Beigeschmack. Aufgrund der stark vereinfachten Pixelgrafik und des steigenden Tempos verlässt sich das Spiel bei seiner Definition von Geschlecht auf wenige, visuelle Reize: Die Frauen tragen längere Haare und Make-Up, die Männer kurze Frisuren. Damit werden Klischees bedient, die absolut nicht mehr zeitgemäß sind, so sie es denn überhaupt je waren. Das gilt insbesondere für die Darstellung von Bisexualität, die hier als Freifahrtschein für einen veritablen Kussmarathon quer durch alle Bevölkerungsgruppen und damit als Joker im Spiel präsentiert wird.

Dass die Lebensrealität bisexueller Menschen ganz anders und vielfach sogar komplizierter ausfällt als jene Homosexueller, kann in einem simplen Arcade-Titel natürlich nicht ohne Weiteres umrissen werden; wenig nachvollziehbar ist aber gerade deshalb, warum sich der selbst offen homosexuelle Entwickler ausgerechnet für dieses Format entschieden hat. Erschwerend hinzu treten außerdem grobe Fehler, die sich leicht hätten vermeiden lassen: Heterosexualität wird konsequent als “Hetrosexuality” [sic] und aus unerfindlichen Gründen vor den Farben der Trans-Flagge präsentiert, obwohl Transsexualität im Spiel gar keine Erwähnung findet.

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Nach all dem wilden Geknutsche lässt mich Kissing Time ziemlich ratlos zurück. Warum wechsele ich im Spielverlauf stets nach einer bestimmten Zeit meine Identität und Vorlieben? Warum soll ich mich ausgerechnet in einem Spiel, das “gender identity” als essentiellen Bestandteil benennt, nur auf Männer oder Frauen fokussieren? Und warum darf ich, unabhängig von meinem aktuellen Status, grundsätzlich nicht mit Katzen kuscheln? Auch die kryptische Botschaft am Ende erleichtert das Verständnis nicht. “You aren’t god to control people’s live [sic]. So stop harassing people because they are different”, heißt es da, dabei wird dieser Aspekt an keiner anderen Stelle thematisiert. Kissing Time wirft zahlreiche Botschaften wild durcheinander und erscheint deshalb nicht nur formal konfus und überfordernd. So erweist sich der just aufgestellte Knutschrekord leider als wenig erfüllend.