Seraph: Gott weiß, ich will kein Engel sein
Seraph hat es mir schwer gemacht, darüber zu schreiben. Fast wünschte ich mir, es wäre so ein gescheitertes Early-Access-Projekt, wo ein unfertiger Build hochgeladen wird, dann kassieren die Entwickler das Geld, setzen sich nach Haiti ab und geben nach einem Jahr bekannt, dass die Entwicklung eingestellt wurde. Aber Seraph war Early Access, wie es uns immer versprochen wurde: Das Team war aktiv, redete mit der Spielerschaft, reagierte schnell auf Bugs und gab sich offensichtlich insgesamt Mühe, eher positiv als negativ aufzufallen. Es erschien mir unfair, mehr als ein paar Worte darüber zu verlieren, wäre es doch in der darauffolgenden Woche wieder ein anderes und wahrscheinlich besseres Spiel gewesen. Aber jetzt haben die Entwickler das Early-Access-Banner entfernt und bezeichnen die aktuelle Version des Spiels als fertig, also gibt es wahrscheinlich keinen besseren Zeitpunkt über Seraph zu reden als jetzt.
Ich bin mir wirklich nicht sicher, von was das Spiel überhaupt handelt: Es gibt mindestens einen Engel und eine ganze Horde von Dämonen und vermutlich verhindert man die Apokalypse oder dämmt diese wenigstens ein. Unter Umständen fehlt mir einfach ein wenig die Übersicht über europäische Kunst außerhalb der vergangenen 20 Jahre, die ich bräuchte, um religiösere Texte als Darksiders verstehen zu können. Oder aber das alles sind nur willkürlich gewählte Stichwörter aus dem Setting-O-Mat. Ich traue mir selbst nicht zu, das zu beurteilen, deshalb konzentriere ich mich auf das Wichtigste: Knarren.
Seraph hat ziemlich viele Knarren. Das ist auch gut so, denn die Interaktionsmöglichkeiten mit der Welt beschränken sich darauf, diese im Fall von Feinden zu erschießen oder im Fall von Beute einzusammeln. Und das Erschießen ist nicht mal schwierig, die Protagonistin zielt automatisch und man muss nur noch den Abzug betätigen, während man sich darauf konzentriert, mit hektischen Sprüngen feindlichen Angriffen auszuweichen. Bewegungsmöglichkeiten gibt es viele, die auch alle ihren Platz haben, bekommen die Gegner doch immer schnellere und immer komplexere Angriffe.
Das Kerngameplay könnte gut funktionieren, wenn da nicht dieses Problem wäre: Es ist schrecklich unübersichtlich. Befinden sich mehr als vier Gegner gleichzeitig in einem Raum und haben diese vielleicht sogar Spezialfähigkeiten, setzt mein Gehirn einfach komplett aus und meine Finger machen irgendwas, nur meistens nichts Zielführendes. Und ich glaube, das ist kein Problem meiner Fähigkeiten, sondern ein Problem des Spiels. Es ist nur schwer lesbar. Es fehlt an Kontrast, an Deutlichkeit und Unterscheidbarkeit und an klaren, großen Signalen, anhand derer ich Entscheidungen treffen kann.
Erschießt man gerade nichts, levelt man hoch, schaltet neue Fähigkeiten frei und baut sich neue und bessere Waffen. Egal, wie bescheuert sie sind, ziehen solche Tretmühlenmechaniken mich immer in ihren Bann und ja, auch Seraph konnte mir ein freudiges Quietschen entlocken, als ein Gegner explodiert ist und ein seltenes Handwerksmaterial zurückgelassen hat. Aber es verwirrte mich auch mit seinen vielen, konkurrierenden Systemen, von denen ich nicht weiß, welches davon in welchem Spielmodus funktioniert, welche Verbesserungen permanent sind und wo ich mir Material und Erfahrungspunkte wofür verdienen kann. Und beim adaptiven Schwierigkeitsgrad, der sich meinem Können anpassen soll, habe ich sowieso das Gefühl, dass er alle objektiven Verbesserungen unnötig macht, weil diese sich einfach in einem schwierigeren Spiel niederschlagen.
Ich würde Seraph gerne mögen, weil es darin so viele Dinge gibt, die ich sehr mag. Dem stehen aber viele kleine, störende Entscheidungen im Weg, dafür könnte ich noch ewig Beispiele aufzählen. Und jetzt steh ich wieder hier und bin genauso schlau wie vorher: In seinem jetzigen Zustand begeistert mich das Spiel nicht so richtig, aber es hat keine Probleme, die man nicht beheben könnte. Und welchen Wert hat die Versionsnummer 1.0 denn überhaupt noch in einer Zeit, in der man Spiele ständig und praktisch ohne Aufwand für alle Spielenden verändern kann? Ich weiß es nicht. Aber immerhin hat das Studio mein Vertrauen darin gewonnen, dass sie bereit und in der Lage dazu sind, nötige Verbesserungen vorzunehmen – ob sie das auch mit der Releaseversion weiterhin motiviert tun werden, oder ob sie sich stattdessen lieber auf neue Projekte konzentrieren, wissen sie vielleicht nicht mal selbst.