Weltraumkniffel! So wird Tharsis zynisch von Kritikern wie Spielern wegen seiner Fixierung auf sechsseitige Würfel genannt. Zum Glück teilen die Entwickler meine Auffassung, dass das unfassbar lustig klingt und schreiben sich den Begriff stolz auf ihre Webseite, anstatt sich davon beirren zu lassen. Außerdem ist die Bezeichnung nicht nur zynisch, sondern auch engstirnig: Nicht alles mit sechsseitigen Würfeln ist Kniffel, am anderen Ende des Komplexitätsspektrums liegt Shadowrun und irgendwo dazwischen neben vielen anderen Spielen auch Tharsis.
Tharsis ist praktisch ein Brettspiel mit 3D-Grafik, aufgewertet mit dem leichten Anflug einer Handlung: Der erste Marsflug der Menschheit wird kurz vor seinem Ende von einer Katastrophe bedroht, als das Raumschiff von einem Meteoritenschwarm getroffen wird. Dieser tötet zwei Crewmitglieder und vernichtet die Vorräte, wodurch die vier verbleibenden Astronautinnen und Astronauten den Mars erreichen müssen, bevor sie verhungern. Mit jedem überlebten Tag schaltet man Zwischensequenzen frei, die immer nur wieder betonen, wie schrecklich die Situation ist, ohne diese auf irgendeine Art zu entwickeln. Am Ende verliert sich das Spiel dann in einem wenig sagenden Mysterium und belässt es dabei.
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Das tut dem Spiel aber alles keinen Abbruch, bietet die Mechanik doch genug Raum, organisch eine Handlung zu erzählen, ohne die Erzählerin zu bemühen. An jedem Tag wird das Raumschiff von einigen Problemen heimgesucht, die es mit den vier verbleibenden Crewmitgliedern zu lösen gilt. Mal entweicht die Atemluft langsam durch ein Leck in der Außenhülle, dann brennt es im Maschinenraum und schließlich ist das Gyroskop kaputt – was einem auf langen Raumfahrten halt passiert. Daneben gibt es dann noch das Tagesgeschäft, für die Gesundheit von Crew und Raumschiff zu sorgen. Dazu bedient sich das Spiel einer – zugegeben – kniffelähnlichen Mechanik: Täglich steht ein begrenzter Vorrat an Würfeln und Neuwürfen zur Verfügung. Die gewürfelten Zahlen verteilt man auf verschiedene Felder, die unterschiedliche Anforderungen haben, wie zum Beispiel Straßen, mehrere gleiche Würfel oder nur eine einzige, bestimmte Zahl. Anstatt wie beim Kniffel dafür Punkte zu bekommen, lösen abgehakte Zahlenkombinationen Spezialfähigkeiten aus oder tragen zur Beseitigung der akuten Probleme bei.
Dadurch wird Tharsis unfassbar schwer und frustrierend. Egal wie gut der Plan war, er kann jederzeit daran scheitern, dass die Würfel wieder nicht für eine einzige Spezialfähigkeit gereicht und nicht mal das Feuer gelöscht haben. Selbst die Forschung als Trostpreismechanik, die großzügig viele verschiedene Würfelergebnisse akzeptiert, liefert zufällige und manchmal komplett nutzlose Ergebnisse. Aber zu meiner eigenen Überraschung musste ich feststellen, dass genau das trotz meiner sonst so niedrigen Frustrationstoleranz den Reiz von Tharsis ausmacht: Der Schwierigkeitsgrad erzeugt eine betrübte Hoffnungslosigkeit, die jeden noch so kleinen Erfolg wie die Rettung der Mission aussehen lassen. Vielleicht ist der Flug manchmal bereits nach wenigen Tagen mathematisch nicht mehr lösbar, aber dadurch, dass diese Möglichkeit immer im Raum steht, fühlt sich jede bestandene Marslandung wirklich so an, als wäre sie entgegen aller Erwartungen gelungen. Die Würfelmechanik betont das Gefühl der Mission in einem Maß, das weder die Zwischensequenzen noch die animiert traurig dreinschauenden Gesichter erreichen. Das Gefühl, es gerade so schaffen zu können, erreicht das Niveau meines liebsten, kooperativen Brettspiels namens Pandemie. Oder, ganz einfach ausgedrückt: Tharsis ist ein so gutes Brettspiel, dass es die 3D-Grafik nicht mal gebraucht hätte.