The Shivah – Kosher Edition
Die kleine Synagoge ist fast leer. An der Wand verdeutlicht ein langer Riss im Mauerwerk die finanzielle Notlage der Gemeinde. Als der Gesang des Kantors verstummt, hebt Rabbiner Russell Stone an zu einer Predigt über menschliches Leid und die klassische Frage, warum ein allmächtiger Gott nichts dagegen tut. In diesem trostlosen Ambiente sehne selbst ich mich als Ungläubige nach etwas Hoffnung, doch Stones Worte machen irgendwie alles nur schlimmer. Eigentlich aber auch egal, denn es hört sowieso keiner mehr zu. Lediglich lautes Schnarchen aus einer der hinteren Reihen zeugt davon, dass noch ein Gemeindemitglied den Weg in die Synagoge gefunden hat. Hunderte Male hat Stone vor diesen leeren Plätzen gepredigt, hunderte Male verhallten seine Worte ungehört. Und plötzlich kommt der Moment, in dem Stone begreift, dass es vorbei ist. Der Rabbiner, dessen Worte Sinn stiften sollten, sieht selbst keinen Sinn mehr in seinem Wirken. Die Predigt ist vorbei, bevor sie richtig begonnen hat.
Die erste Szene in The Shivah – Kosher Edition gibt die bedrückende Grundstimmung des Spiels vor und zeichnet zugleich mit wenigen Strichen ein Bild des Hauptprotagonisten: Russell Stone ist ein Rabbi voller existenzieller Zweifel und Verbitterung, der klassische resiginierte Film noir-Held. Doch genau im dem Moment, im dem er alles hinwerfen will, macht ihn das Schicksal zur Hauptfigur in einem Kriminaldrama. Als er Besuch von einem Polizeiermittler bekommt und erfährt, dass ein ehemaliges Gemeindemitglied ermordet wurde, wird Stone vom Geistlichen zum Privatermittler. Sein Antrieb ist dabei reiner Selbsterhaltungstrieb: Er muss zum Jäger werden, um nicht zum Gejagten zu werden – denn das Mordopfer hat der verarmten Synagoge 10.000 Dollar vererbt und macht den Rabbi damit zum Haupttatverdächtigen. Doch im weiteren Spielverlauf wird klar, dass die Suche nach einem Mörder nicht einmal die größte Herausforderung ist: Rabbi Stone muss sich letztlich auch seiner eigenen Vergangenheit und den Konsequenzen seines Wirkens stellen. Rund um den Protagonisten entwickelt sich eine düstere, fesselnde Geschichte über moralische Konflikte und menschliche Abgründe.
Bei aller Melancholie ist The Shivah kein humorloses Spiel. Die Sammlung an jüdischen Witzen im Netzwerk von Rabbi Stones Computer ist dafür nur ein erster und vordergründiger Indikator. Allein in den Dialogen steckt eine Menge Witz, auch wenn sich gerade im Fall des Protagonisten eine gehörige Portion Verbitterung dazumischt. So kann Stone etwa in nahezu jedem Gespräch mit einer “rabbinischen Antwort” reagieren – die sich dadurch auszeichnet, dass sie eben gerade keine Antwort ist. Nicht umsonst ist dem Spiel ein bekannter jüdischer Witz vorangestellt, der mit dem Klischee spielt, Rabbis würden bevorzugt mit einer Gegenfrage antworten. Mit dem absurden, überdrehten Humor eines Monkey Island hat das natürlich nichts zu tun. Und doch meinte ich gegen Ende des Spiels sogar eine dezente Hommage an das Beleidigungsfechten im Piratenklassiker Monkey Island zu erkennen.
The Shivah – Kosher Edition ist kein neues Spiel, sondern das umfangreiche Remake eines Adventures von 2006. Damit gewann Entwickler Dave Gilbert damals den Communitywettbewerb der kostenlosen Spielentwicklungsumgebung Adventure Game Studio (AGS). Für die Neuauflage wurden Grafik, Soundtrack und Synchronisierung grundlegend überarbeitet. Herausgekommen ist ein überzeugendes Gesamtkunstwerk. Die Geschichte fesselt, das Rätseldesign ist klug und vielseitig – von Onlinerecherchen bis hin zur Kombination von Hinweisen in einer Art Indizieninventar führt der Weg des Rabbis bis zur Lösung des Falls. Trotz seiner wenigen Schauplätze und der recht kurzen Spieldauer ist The Shivah ein Kleinod, das definitiv eine Neuauflage verdient hatte und mich für einige Stunden in eine spannende, wenn auch nicht übermäßig komplexe Erzählung entführte.
Ein sehr gutes Spiel also. Und ein ungewöhnliches, bedenkt man den religiösen Kontext, in dem sich das Abenteuer abspielt. Spirituelle Themen kommen in Spielen immer mal wieder vor, aber selten gibt einen so explizit religiösen Bezug. Ist es also ein Spiel über Religion oder gar ein „religiöses Spiel“? Dave Gilbert beantwortet diese Frage mit einem Nein. Zwar denke ich grundsätzlich, dass die Meinung des Entwicklers in einer solchen Frage nicht zwangsläufig entscheidend ist. Wie Studierende der Literaturwissenschaft bei der Analyse eines Romans einen gewissen gedanklichen Sicherheitsabstand zu dessen Autor halten müssen, so sollte auch ein Spiel zunächst für sich selbst sprechen. Doch in diesem Fall sprechen Werk und Schöpfer mit einer Stimme: The Shivah ist in der Tat kein „religiöses Spiel“. Es missioniert nicht, es wirbt nicht um Sympathien, es klärt nicht explizit über Glaubensfragen auf. The Shivah verfolgt keinen religiösen Zweck. The Shivah ist noch nicht einmal ein Spiel über Religion, denn letztlich ist der Glaube nicht das Thema des Spiels. Religion bildet hier den Hintergrund der Story und ist der Ausgangspunkt für die Beziehungen der handelnden Personen. Insofern ist The Shivah eher ein Krimi mit religiösem Thema als ein „Religionsthriller“.
Und dennoch steckt mehr in der Erzählung um den Rabbi, der einen Mordfall aufklärt, als nur ein außergewöhnliches Szenario. The Shivah ist ein Spiel über Moral und über das Paradoxon, dass Glaube einerseits die Motivation für moralisches Handeln sein kann, andererseits aber auch für das Gegenteil. So weit, so banal – schließlich ist es eine Binsenweisheit, dass im Namen von Religionen sowohl Unheil verübt als auch Gutes getan wird. Doch so einfach macht es sich das Spiel nicht. Die abstrakte moralische Fragestellung, die im Spiel thematisiert wird, geht tiefer und erfährt in der Figur des jüdischen Geistlichen eine konkrete Zuspitzung: Der Konflikt, der hinter seinen Gewissensqualen steckt, ist das Abwägen zweier nachvollziehbarer Positionen, die sich so konträr gegenüberstehen, dass jede Entscheidung für eine Seite unweigerlich auf der anderen Seite ein moralisches Minus bringt.
Mit eben so einer Entscheidung, die er vor langer Zeit treffen musste, hadert der Rabbiner. Die grundlegenden Fragen, die Stones Dilemma konstruieren, lassen sich ansprechen, ohne dass ich dadurch zu viel verrate: Rechtfertigen der Auftrag und das Streben, den Fortbestand der jüdischen Gemeinde zu sichern, den moralisch fragwürdigen Ausschluss eines Gemeindemitglieds? Oder umgekehrt: Rechtfertigt der Wunsch, dem eigenen moralischen Kompass zu folgen, den Verstoß gegen religiöse Dogmen, gerade wenn diese die Sicherung einer Zukunft für die jüdische Gemeinde zum Ziel haben? Dieser Zwiespalt, den Rabbi Stone in The Shivah zu verarbeiten sucht, ist ein Rätsel ohne allgemeingültige Lösung. Und er ist ein spannendes, moralisches Konstrukt, das mich noch beschäftigt hat, als der eigentliche Fall längst gelöst war.