Kopfschmerzen, Erinnerungslücken und jede Menge offene Fragen –
ein Spiel wie ein Filmriss.
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Der US-Bundesstaat Virginia erstreckt sich über eine Fläche von rund 110.000 Quadratkilometern vom westlich gelegenen Nachbarstaat Kentucky bis an die südatlantische Küstenebene und bietet mit Sehenswürdigkeiten wie dem Great Falls Park oder den Luray Caverns gleich eine ganze Reihe an beeindruckenden Naturlandschaften. In dem gleichnamigen Debüt des britisch-irischen Entwicklerstudios Variable State bekommt man von dieser Opulenz nur einen verschwindend geringen Bruchteil zu sehen – der aber trotzdem einen nachhaltigen Eindruck hinterlässt.
Eine Erkenntnis, die zumindest mich ziemlich überraschend getroffen hat, deutete im Zuge der Vorberichterstattung doch nur wenig darauf hin, dass man hier ungewöhnliche Pfade beschreiten würde. Im Gegenteil: Weder die plakativen Referenzen an den popkulturellen Mistery-Kanon der Neunzigerjahre, noch das charmant reduzierte Art-Design erweckten den Eindruck, als würde man hier eine wirklich neue Erfahrung mitnehmen. Dafür ist die Dichte an ähnlich gearteten Adventure-Spielen mit Titeln wie »Firewatch«, »Everybody’s Gone To The Rapture« oder »Life Is Strange« alleine in der jüngeren Vergangenheit schlichtweg zu hoch gewesen. Und tatsächlich bemüht sich auch Virginia fast schon ein wenig zu verbissen um die Nähe zu seinen nostalgisch verklärten Referenzpunkten. Mit einigen subtilen, dafür aber umso effektiveren Kunstgriffen ist es den Entwicklern trotzdem gelungen, der eher gefälligen Beschaffenheit des Genres einen spannenden Dreh zu verleihen.
Wenn ich zu Beginn des Spieles in den Badezimmerspiegel blicke, sehe ich Anne Tarver, eine junge FBI-Agentin, die in Kürze ihren Dienst in der Kleinstadt Kingdom antreten wird. Klare Verhältnisse, die mit einer Vermisstenakte auf meinem Schreibtisch alsbald zu bröckeln beginnen. Denn neben dem verschollenen Jungen wirft trotz augenscheinlicher Sympathien auch meine neue Partnerin immer mehr Rätsel auf. Eine ambivalente Beziehung, die trotz der fehlenden Sprachausgabe erstaunlich gut in seiner Entwicklung illustriert wird, die damit einhergehenden Einschränkungen aber nicht gänzlich kaschieren kann. Dafür zeigt der bewusste Verzicht auf eine Synchronisation an anderen Stellen umso mehr Wirkung und zahlt deutlich auf die unwirkliche Stimmung des Spiels ein.
Ein Aspekt, der übrigens auch auf die völlig unvermittelt ins laufende Gameplay gesetzten Jump Cuts zutrifft, die zwar meine laufende Bewegung beschleunigen, zugleich aber auch immer irritierender werden. In dieser Hinsicht spielt Virginia extrem gut mit den Konventionen des eigenen Mediums, ist man als Spieler doch völlig darauf konditioniert, nach einem Schnitt den Controller in den Schoss zu legen und auf die nächste Zwischensequenz zu warten. Hier passiert erstmal: gar nichts. Man gerät kurz ungläubig ins Straucheln und führt seinen Weg dann fort. Zack, Büroflur. Zack, Treppenhaus. Zack, Parkhaus. Ein Traum für ungeduldige Menschen wie mich, aber auch eine Qual für explorative Spielernaturen.
Obwohl die unvermittelten Szenenwechsel in der Regel eher Irritation statt Struktur stiften, schütteln sie ihre cineastische Funktion nur selten ab. Denn auf jeden Schnitt folgt ein wohl komponiertes Anschlussbild, dass die erratische Erzählung einerseits entschleunigen, andererseits aber auch zu einem einem Reigen bedeutungsvoller Zeichen verdichten kann und dem eher passiven Gameplay einen cleveren Rhythmus verleiht. Das ist insofern klug, als dass Virginia allenfalls noch eine Illusion von Partizipation aufrecht erhalten kann, statt den Spieler wirklich zu fordern. Ich folge offensichtlichen Pfaden von A nach B, interagiere auf Knopfdruck mit den offensichtlich im Sichtfeld drapierten Gegenständen und unterwerfe mich ansonsten völlig den abstrakten Regeln dieser interaktiven Erzählung. Virginia fesselt nicht über seine Mechaniken, sondern als Idee für das, was Spiele abseits ihrer nacheifernden Haltung mit gefällig produzierten Großspektakeln und aufgeblasenen PR-Kampagnen vom Film lernen können.
Variable State wissen dabei allerdings nicht nur im verwirrenden Spiel mit den Konventionen zu überzeugen, sondern auch über die Präzision, mit der sie den offenkundig angestrebten Ton treffen. Die demonstrativ von David Lynch entliehene Interpretation des Surrealismus geht hier nämlich vor allem deshalb auf, weil sie sich ihrem Vorbild entsprechend nicht dezidiert irgendeinem Horror- oder Fantasy-Jargon unterordnet, sondern in einer bisweilen recht konfrontativen Ausprägung immer wieder über den zunächst scheinbar gewöhnlichen Alltag der Protagonistin hereinbricht. Die anfängliche Unterscheidung zwischen Traum und Realität wird einzig und allein etabliert, um sie im späteren Spielverlauf mit voller Hingabe niederreißen zu können. In dieser speziellen Ausgestaltung pflegt Virginia wahrscheinlich sogar die größte Nähe zu seinem Idol, neben der die offensichtlicheren Analogien stellenweise ein wenig plump anmuten können.
Dass Virginia am Ende kaum etwas über seine eigene Perspektive auszusagen vermag, die mich das reaktionäre System der US-Strafverfolgungsbehörden in den Neunzigerjahren durch die Augen einer woman of color betrachten lässt, ist am Ende vielleicht sogar der einzige Wermutstropfen. Denn das Autoritätsgebaren der weißen Männer, die uns in der Regel als Vorgesetzte gegenüber stehen, erschöpft sich vor allem in stereotypen Machtgesten, deren Motive meistens viel zu unklar bleiben, als dass sie sich konkret rassistischen oder sexistischen Mustern zuordnen ließen.
In Anbetracht der vielen Stärken fällt es allerdings kaum ins Gewicht, dass das Spiel nicht so wirklich von seinem ungewohnten Blickwinkel zu profitieren weiß. Mit dem expressionistischen Bilderrausch, der kafkaesken Erzählung und all den doppelten Böden macht dieser Trip in den Kaninchenbau nämlich nicht nur etwas ungewöhnliches, sondern dabei auch noch ziemlich viel richtig – die entsprechende Erwartungshaltung vorausgesetzt. Denn neben der besagten Interaktionsarmut könnte das Spiel den ein oder anderen auch aufgrund seines kompakten Formats irritieren, das nach maximal zwei Stunden die Credits über den Bildschirm laufen lässt. Dass Virginia gar nicht mehr Zeit braucht, um seinen Standpunkt zu vermitteln, ist vielleicht sogar die größte Stärke des Spiels – und nicht zuletzt der perfekte Grund, um auch ein zweites oder drittes Mal in den Kaninchenbau hinunter zu steigen.