A MAZE: Cactus Keynote
“Ich habe hier ein Spiel vorbereitet, das mein Argument verdeutlicht”, murmelt der schwedische Spielemacher Jonatan “Cactus” Söderström mit Dosenbier in der Hand. Es ist 11 Uhr Morgens und Cactus ist betrunken. Ich weiß das, schließlich habe ich ihm versichert, dass er sein LIDL-Dosenbier auf der Bühne des ersten deutschen Indie-Game-Festivals trinken kann. In seiner Eröffnungsrede spricht er über die schleichende Kommerzialisierung von Indie Games und eine Szene, in der er sich nicht mehr zuhause fühlt. Ein passendes Thema, für eine Veranstaltung, die feiern soll, was auch immer heute “Indie Games” sein sollen.
Auf der Leinwand hinter ihm, ist sein mitgebrachtes Spiel: Ein kleines Pixelmännchen steht in einem zweidimensionalen Raum vor einer Reihe Münzen, die verlockend in der Luft schweben. Cactus drückt auf eine Taste seines klobigen Laptops und das Pixelmännchen hüpft vorwärts, um mit einem pling eine Münze einzusammeln. “Das sind Indie-Games, versteht ihr?”, sagt Cactus undeutlich. “Es scheint, wir würden nur Geld verfolgen”, er klickt auf den Kopf des Männchens, “aber da ist viel mehr, wisst ihr?”. Klick – nichts. Komplette Stille im Publikum im kleinen Raum des hbc, alles Spieleentwickler, Blogger, Journalisten. Klick, klick. Nichts.
“Fuck”, Cactus wirkt mit einem Schlag wieder nüchtern. “Also eigentlich sollte ich da auf den Kopf des Männchens klicken und dann siehst du das Innere des Kopfes und du kannst die Münzen, das Geld im Kopf, entfernen und stattdessen…Ideen da reintun!” Cactus möchte, dass Ideen wieder Vorrang haben vor dem Geld. Aber sein Spiel funktioniert nicht. Aus der Spiele-Allegorie über Geld und Kunst ist ein trauriges Statement geworden über das unüberwindbare Thema Geld für Indie-Entwickler.
Cactus ist die vielleicht provokanteste Figur der Indie-Szene. Seine Spiele sind sonderbare Experimente, scheinbar in betrunkener Rage zusammengehackt mit freien Entwicklungstools wie Game Maker. Sie sind teils unspielbar, unanansehnlich, politisch fragwürdig und furchtbar zynisch. Sie sind auch — wenn man sich denn auf sie einlässt — verdammt spaßig. Auf dem A MAZE Festival nimmt Cactus allerdings eine wichtigere Rolle ein. Er handelt als das Gewissen der Indie-Szene. Er soll daran erinnern, dass es in Spielen vor allem um Selbstausdruck, um Spaß und um Experimente geht — nicht um Deals mit Publishern.
“Indie Games waren früher vor allem Freeware-Spiele, Gratis-Spiele, die wir einfach so ins Netz gestellt haben”, erzählt Cactus, “heute sind sie kommerziell. Sie sind nicht mehr frei.” Schuld daran, sind wir, die Spieler, Autoren, Podcaster. Einem FEZ, Super Meat Boy oder Journey schenken wir Aufmerksamkeit, während freie Spiele höchstens für ein schnelles Thumbs Up taugen.
Junge Entwickler dagegen würden keinen Zugang mehr kriegen zur Indie-Szene. Wenn Indie-Games mal mit lo-fi-Ästhetik Zugänglichkeit verspochen haben, ist der Glanz von Erfolgen wie Journey so beeindruckend wie entmutigend. Wer kann sich schon vorstellen, alleine Meisterwerke wie Journey, Braid oder Super Meat Boy zu entwickeln. Und, noch schwerwiegender, wie kann ein einzelner Entwickler erwarten, erfolgreich zu sein, wenn die Messlatte so hoch liegt?
Cactus macht sich Sorgen. “Seine” kleine Welt ist im Umbruch und er, der kleine Punk, kommt nicht hinterher. Der kurze Moment von Indie Games als rotzige Punkrockkunstprojekte scheint vorbei und er selbst ist darauf hängen geblieben, während seine Freunde längst im Businessbereich über Distributionsdeals mit Steam verhandeln. “Das war halt so, was ich mir gedacht habe, als mich Thorsten Wiedmann gebeten hat, hier zu sprechen”, sagt Cactus und lächelt, “aber das war ein Vorurteil. Indie Games waren niemals besser als sie es jetzt sind.”
Anstatt sich festzufahren auf die populäre Kritik von Indie Games als durchkommerzialisierte Szene, die gefördert wird von einflussreichen Meinungsmachern wie dem Indie Games Festival (IGF), hat sich Cactus für eine nüchterne, historische Perspektive entschieden. Er hat nachgeforscht über die Vergangenheit der Indie Games und ist zum Schluss gekommen: Es war nie anders.
“Schaut euch mal die Gewinner früherer IGFs an. Das waren wirklich komische kommerzielle Projekte. Völlig bedeutungslos”, erklärt Cactus überrascht mit sich selbst, “Seiten wie indygamer (jetzt indiegames.com) haben nie nur über kostenlose, freie Spiele geschrieben. Das ist ein Mythos.”
Was Cactus gefunden hat, war eine befreiende Erkenntnis: Indie Games sind okay. Sie sind auf dem richtigen Weg und das A MAZE Indie Festival ist dafür das beste Beispiel. Ein kleines Festival von verwirrten Leuten, die Spiele mehr lieben als vermutlich gesund ist (Thorsten Wiedmann hat Cactus eine Facebook-Nachricht geschrieben, um rauszufinden, ob er Lust hätte, die Eröffnungsrede zu halten) für verwirrte Leute, die Spiele mehr lieben als es vermutlich gesund ist (Cactus hat zugestimmt, nach Berlin zu kommen, obwohl das A MAZE Festival vergessen hat, ihm zu sagen, dass sie ihm nur 2 Nächte im Hotel bezahlt haben und ihn damit eine Nacht Obdachlosigkeit beschert haben).
Allein der Sieger des Festivalpreises ist dafür Beweis genug: Proteus, eine Spielwelt als Synthesizer ohne größeren Sinn und Zweck, ein “audiovisueller Orgasmus” (nicht meine Worte!), der einfach nur … ist, gemacht von Ed Key und David Kanaga. Es ist ein Spiel, das um ein vielfaches beeindruckender ist, als das am Vortag ausgezeichnete Crysis 2. Dass Spiele kommerzieller werden, ist den Fortschritten in digitaler Distribution und der wachsenden Erfahrung der jungen Entwickler von damals geschuldet. Sie wollen Geld, weil wir ihnen gerne Geld geben, dafür, dass sie kreativ sein dürfen. Und für den Nachwuchs gibt es ja noch Anna Anthropy als Advokatin des Punk.
Und wenn Proteus auch nach klassischem Verständnis erfolgreich sein darf, dann sind Indie Games auf dem richtigen Weg. Sie sind experimentell, verwirrend, mal innovativ, mal retro, manchmal frei, manchmal nicht — aber vor allem lebendig. Es ist ein spannende Zeit für unabhängige Entwickler. Verklärtes Zurückblicken hat wenig Sinn. Wozu denn auch, wenn es so viele interessante Spiele gibt, die da auf uns zukommen?
Auch Cactus hat das verstanden. Nach langer Pause, in der er mit Depressionen zu kämpfen hattte, soll diesen Sommer sein neues Spiel erscheinen: Hotline Miami, eine Art Grand Theft Cactus in Kollaboration mit dem Fucking Werewolf Dennis. Es wird verkauft werden und es wird großartig. Ganz bestimmt. Aber drückt bitte nicht die Leertaste.
Danke für die Bilder an Jana Reinhardt von Rat King.