Gedankenspiele: Über Hellblades entlarvende Lüge
„Die Ungeduld ist ein schnelles Pferd, aber ein schlechter Reiter.“, schrieb einmal der Kinderbuchautor Erich Kästner und hätte damit auch den aktuellen Zustand des Spielejournalismus ganz vortrefflich beschrieben. Dieser ist an einem Punkt angelangt, an dem es praktisch undenkbar scheint, die eigene Meinung zu einem Titel nicht schon gebildet zu haben, bevor dieser überhaupt in die analogen und digitalen Verkaufsregale eingestellt wurde. Dass diese flüchtige und oftmals unfundierte Auseinandersetzung mit Neuerscheinungen wenig Raum zur Reflexion und weiterführenden Gedanken bietet, ist nun wahrlich keine neue Erkenntnis, dennoch war es ein ganz besonderer und erhellender Moment, als in den vergangenen Tagen die Diskussion um eine erstaunlich mutige Designentscheidung des Spiels Hellblade: Senua’s Sacrifice entbrannte.
Eine Texteinblendung droht zu Beginn damit, den gesamten Spielverlauf zurückzusetzen, sollte man zu oft auf seiner Reise durch die bedrückende Spielwelt das Zeitliche segnen. Eine Mechanik, die nicht nur untypisch für ein exploratives Action-Adventure ist, sondern geradezu bedrohlich auf eher unbedarfte Spielerinnen und Spieler wirken muss. Entsprechend verärgert fielen die Reaktionen aus, als die ersten Rezensionen von der realen Möglichkeit berichteten, den eigenen Fortschritt dauerhaft verlieren zu können. Es sei ein konsumentenfeindliches Feature, eine fehlende Wertschätzung der investierten Zeit und würde ein ansonsten respektables Spiel ruinieren.
Mehr Freude an dem Titel hatten diejenigen Menschen, die immerhin die Zusammenhänge zwischen der thematisierten schwindenden Geistesgesundheit der Protagonistin und dem drohenden Verlust alles spielerisch Erreichten ausmachen konnten. Womöglich kamen diejenigen, die diesen Affront nicht als solchen ansahen, sondern ihn als erlebnisintensivierend begrüßten, dem vom Entwicklerstudio angestrebten Spielgefühl am nächsten. Vielleicht aber auch nicht. Fest steht nur, dass weder die kritischen noch die bewundernden Stimmen dieser gnadenlosen Mechanik sie im Spiel selbst erfahren haben. Es gibt sie nämlich überhaupt nicht.
Selten hat eine solch simple, einfach zu widerlegende Lüge den fragwürdigen Umgang mit einem Medium so konsequent offengelegt, wie jene leere Drohung von Hellblade. Dabei geht es weniger um die Personen, die in diese ziemlich gewiefte Falle getreten sind, sondern vielmehr um das System, in dem sie sich bewegen und das keine Zeit für ein substantielles und nachhallendes Erleben von Spielen erlaubt. Denn in den seltensten Fällen fehlt der Willen, einer solch brisanten Eigenschaft eines Spiels näher auf den Zahn zu fühlen. Vielmehr ist die gängige Praxis das Problem, Informationswürste zu verfüttern, bei denen noch nicht einmal das Naturdarmende ordentlich verknotet wurde. Wenn jedes Wort zu einem Spiel sich ein Wettrennen mit den Worten der anderen liefert, mag das eigene vielleicht als erstes ins Ziel kommen, doch kann es wie im Falle von Hellblade ebenso leicht über dieses hinausschießen.
Letztlich verlieren durch den allgegenwärtigen Termin- und Informationsdruck im Spielejournalismus Worte nicht nur an Aussagekraft und Distinktion, da meist die erstbesten gewählt werden, die einem in den Sinn kommen, sie basieren darüber hinaus vermehrt aus wiedergekäuten und unhinterfragten Publisher- und Entwicklerinformationen. Recherche kostet nicht nur Zeit, sie kostet Klicks, und da wird dann eben auch der kontroverseste Bestandteil eines Spiels nicht einmal ausprobiert. Das alles geschieht unter dem Deckmantel einer Pro-Consumer-Attitüde, die so authentisch ist wie es die Trailer zu Aliens: Colonial Marines einst waren.
“Sometimes you don’t quite consider every facet of something until the thing is done.” (Jim Sterling)
Dass Hellblade neben dem provozierten Fokus auf eine letztlich nicht existente Mechanik auch noch den doch eigentlich so unabhängig agierenden Kritiker Jim Sterling durch einen Fehler im Spiel so sehr auf die Palme brachte, dass dieser den Titel unversehens mit einer 1/10 abstrafte und dies schon wenige Stunden später ziemlich bereute, zeigt umso mehr, wie essentiell es ist, Eindrücke und Erlebnisse ein wenig sacken zu lassen, bevor man diese als angeblich objektive Berichterstattung in die Welt schreit. Wer sich nicht die Zeit nimmt oder sich nicht die Zeit nehmen kann, Dingen auf den Grund zu gehen, die vielleicht chiffriert oder sperrig daherkommen, der beschreibt letztendlich eine Meinung, die er nie wirklich entwickelt oder verstanden hat. Und wer glaubt, sich aufgrund solcher Nicht-Meinungen seine eigene bilden und mitdiskutieren zu können, der glaubt vermutlich auch, dass das anfängliche Zitat dieses Beitrags tatsächlich von Erich Kästner stammt.
Am Ende dieser Geschichte stehen alle wie Idioten da. Die selbsternannten Konsumentenrechtler, die einen Angriff auf die kostbare Zeit ihrer spätkapitalistischen Gefolgschaft vermuteten. Die gutgläubigen Spieleidealisten, die einem großen Titel wie Hellblade tatsächlich eine solch furchtlose Mittelfingemechanik zugetraut hätten und vor allem diejenigen, die durch die aufgebauschte Diskussion nun niemals erfahren werden, wie sehr eine gut gemeinte Lüge ihr Spielerlebnis womöglich bereichert hätte.
Dieser Beitrag erschien ursprünglich im Kommentarbereich des YouTube-Videoclips “Great Job Pooping!”