Gedankenspiele: Über Wertungs-Anomalien

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Die Wahlkampfstrategie von Donald Trump, wenn man sie denn so nennen möchte, bestand eine lange Zeit vornehmlich aus verbalen Tiefschlägen gegen seine politische Kontrahentin und beleglosem Aufblasen seines eigenen Erfolges als Geschäftsmann. Das mag man aus gemäßigter, mitteleuropäischer Perspektive rustikal und befremdlich finden, doch gehört ein solches Gebaren seit jeher zum gewohnten Vorgeplänkel des US-amerikanischen Politshowapparates. Als vor wenigen Wochen schließlich absehbar wurde, dass die Decke aus Beleidigung und Selbsterhöhung vielleicht ein wenig dünn für einen tatsächlichen Wahlerfolg sein würde, brüllte Trump schließlich etwas zuvor Ungehörtes ins Mikrofon, das bei all den schrillen Zwischentönen bis heute am lautesten nachklingt: Das drohende Wahlergebnis sei im Falle seiner Niederlage gefälscht. Den Glauben an das politische System zu erschüttern, weil es einen selbst abzustrafen droht, war in dieser Größenordnung neu und gefährlich.

Auf einer deutlich übersichtlicheren Skala erfährt der Spielejournalismus in den letzten Jahren ähnliche Befangenheitsanschuldigungen, bisher vornehmlich von wutgeschwängerten Boys, die Angst davor haben, dass Frauen mit bunten Haarsträhnen ihnen ihr Spielzeug wegnehmen möchten. Doch wie soll man nun damit umgehen, wenn plötzlich der CEO eines der größten Spielepublisher weltweit aus voller Kehle im Chor der unbeirrbaren Verschwörungstheoretiker mitsingt?


Strauss ZelnickIn Sachen Reviews und Wertungen…ja… da ist ein Art sonderbare Anomalie, das ist korrekt, die Wertungen sind niedriger als wir es uns gewünscht hätten. Aber es gibt viele ausgezeichnete Rezensionen und ich denke, die bekanntesten Rezensenten haben es wirklich geliebt und erkannt, dass das, was wir mit der Geschichte, dem Design, den Charakteren und der aufregenden Perspektive erschaffen haben, wirklich unerreicht auf dem Markt ist.

Ich denke also, dass wir und unsere Wettbewerber einige Anomalien im Bewertungssystem erkennen können. Wir nehmen diese so hin und widersprechen ihnen nicht, aber wir haben eine enorme Vielzahl an außergewöhnlich positiven Rezensionen und, am allerwichtigsten, die Konsumenten lieben den Titel und kaufen ihn schnell und beständig. Daran müssen wir uns letztendlich auch messen lassen.
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Was Strauss Zelnick von Take-Two Interactive in seiner Ansprache an Investoren als “seltsame Anomalien” bei den Wertungen für Mafia III bezeichnet, ist in seiner Vagheit zwar keine eindeutige Anklage, jedoch unmissverständlich genug, um den Verdacht der Unehrlichkeit und Käuflichkeit von Spielerezensionen aufs Neue zu befeuern. Nicht zuletzt hat diese Aussage eine besondere Tragweite, da sie von jemandem innerhalb der Industrie stammt, der mit den Abläufen vertraut ist und mit seiner unterstellten Fachkenntnis wesentlich mehr Überzeugungskraft besitzen dürfte, als die kruden Hyperventilationen irgendeines Anime-Avatars im IGN-Forum. Dass es sich hierbei jedoch gar nicht um ein öffentliches Statement, sondern vermutlich eher um eine Beruhigungstaktik für besorgte Geldgeber handelt, mindert leider nicht dessen Schadenspotenzial, wenn besagte Anomalien nichtsdestotrotz die Überschriften zahlreicher Gaming-News-Seiten zieren. Was sind das also für Unregelmäßigkeiten, die Zelnick beobachtet haben will?

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Strauss Zelnick (links) weiß viel über “wahnsinniges Geld” zu erzählen. Ein Mann aus den 50ern nimmt mit Bleistift Notiz davon.

Die erste wäre sicher eine, die selbstverschuldet ist. Von Mafia III gab es – entgegen der gängigen Praxis – keine Vorabmuster zum Testen. So etwas kann die Spielepresse gar nicht leiden, doch kann dieses Vorgehen tatsächlich Rachegelüste in Form schlechterer Besprechungen für ein so herausragendes und herbeigesehntes Spiel wie Mafia III wecken? Ist das etwa eine dieser Anomalien, die angeblich auch die nicht näher genannten Wettbewerber heimgesucht hat?

Nein.

Mafia III hat viel Kritik einstecken müssen, weil es viel an dessen Inhalt und Technik zu kritisieren gibt. Es wirkt unausgereift, spielerisch altbacken und belässt es bei einigen guten Ansätzen, die nicht weiterverfolgt wurden. Kurz: Es ist ein mittelmäßiges Spiel, das von den meisten Rezensenten auch als ein solches eingestuft wurde, ungeachtet des Zeitpunktes, zu dem sie ihre Kopie im Briefkasten hatten. Schließlich hätte bei dieser Begründung auch Doom vom nicht näher genannten Wettbewerber Bethesda verärgerte Wertungen reingedrückt bekommen müssen. Hat es aber nicht, weil Doom ein tolles Spiel und kaum jemand so unprofessionell und von persönlichen Befindlichkeiten gesteuert ist, dies nicht anerkennen zu wollen. In Anbetracht dessen, dass von der üblichen 100er-Skala die unteren 50 sowieso keine praktische Verwendung kennen, sind vielmehr die tatsächlich positiven Besprechungen von Mafia III das, was Zelnick als Anomalie hätte umschreiben können. Von gekauften Höchstwertungen munkelt man in der Branche ja immer mal wieder, aber vielleicht denkt Zelnick ja noch einen Schritt weiter… in die andere Richtung!

Denn wenn die wenigen positiven Besprechungen von Mafia III nicht gekauft sind, dann doch vielleicht die zahlreichen negativen. Schließlich verkauft die Konkurrenz mehr, wenn ein Wettbewerber aufgrund mieser Wertungen weniger absetzen kann, ist ja logisch, kaufmännisches 1×1 und so. Steckt also tatsächlich ein missgünstiger Gegenspieler im hartumkämpften Marktsegment der GTA-Klone hinter den miesen Wertungen von Mafia III?

Nein.

Denn welche Konkurrenz gab es denn im Veröffentlichungszeitraum von Mafia III? Die Verkaufszahlen von Paper Mario: Color Splash stiegen vermutlich nicht in ungekannte Höhen, weil ein missverstandener Open-World-Hit nicht die Wertschätzung erfuhr, die ihm gebührte. Doch Zelnick lässt sich nicht so einfach von der Realität beirren, schließlich ist dieser Strauss keiner, der den Kopf wegen kleinster Rückschläge in den Sand steckt. Zelnick betont deshalb voller Inbrunst, welch ein ungekannter Verkaufserfolg Mafia III trotz der genannten Widrigkeiten doch sei. 4,5 Millionen Exemplare wurden von dem Spiel zu dessen Start bereits abgesetzt, so viele wie nie zuvor!

Nein.

Nicht? Ach ja, Zelnick spricht von ausgelieferten Exemplaren und Produktschlüsseln an Händler und Drittanbieter, die mit den tatsächlichen Verkaufszahlen an den Endkunden überhaupt nichts zu tun haben. Dass der Handel sich in der Hoffnung auf einen großen Verkaufsschlager ordentlich eingedeckt hat, mag nicht zuletzt damit zu tun haben, dass niemand rechtzeitig davon Wind bekommen konnte, in welchem Zustand sich das Spiel befindet. Dass die Preise kurz nach dem Release bereits im Sinkflug sind, deutet ebenfalls nicht wirklich auf eine exorbitante Nachfrage hin.


meta
Nicht einmal die User-Wertungen blieben von Anomalien verschont!


Die einzige Aussage, die aus Zelnicks Rede an seine Goldesel zumindest in ihrem Kern Wahrheit besitzt, ist die, am Ende an den Verkaufszahlen gemessen zu werden. Denn Wertungszahlen allein füllen keine CEO-Taschen. Dass sich Zelnick überhaupt rechtfertigen muss, zeugt in diesem Sinne allerdings von einer gewissen Skepsis, was den zu erwartenden Verkaufserfolg angeht. Sich in einer solchen Situation an jeden noch so kaputtgebissenen Strohhalm zu klammern mag menschlich verständlich sein, dafür jedoch die Vertrauensbasis nicht nur in ein bestehendes System, sondern in die Menschen, die innerhalb dieses Systems ihren Lebensunterhalt bestreiten, mit in den Abgrund zu ziehen, ist hochgradig unverantwortlich. Es ist ebenso ein Versuch, die alte Mär von Objektivität und Spielspaß-Messbarkeit neu zu zementieren, und das in einer Zeit, in der die Vielfalt von Perspektiven und Einschätzungen dem Medium ganz neue Diskurse offenbart. Doch diese Vielfalt lässt sich eben auch deutlich schwerer kalkulieren und in monetäre Gegenwerte übersetzen.

Ob Strauss Zelnick am Ende seines Meetings überhaupt selbst wusste, was er mit diesen seltsamen Anomalien wohl gemeint haben könnte, werden wir wahrscheinlich nicht mehr erfahren. Wichtig ist nur, dass die Gelder weiter fließen. Und auch der große Korruptionsaufschrei wird, trotz aller ausdrücklichen Andeutungen, dieses Mal vermutlich ausbleiben. Aufregung kann so herrlich unaufgeregt sein, wenn keine Frauen mit bunten Haarsträhnen in solch einen Pseudo-Skandal verwickelt sind.