Looten und Leveln: In Real Life

Im Grunde ist In Real Life ja eine arg überstrapazierte Phrase: Durch die immer größere Präsenz diverser handlicher Geräte in unserem Alltag, die weltweite Vernetzung mit Gleichgesinnten und nicht zuletzt die rege Nutzung von Onlinespielen, ist eine klare Trennung zwischen dem virtuellen und dem “tatsächlichen” Alltag mittlerweile vielfach nicht mehr möglich. Wie deutlich Ereignisse im Internet Einfluss nehmen können auf unsere Lebensrealität, zeigt sich auch in der gleichnamigen Graphic Novel von Cory Doctorow und Jen Wang.

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“It’s weird. You’re just a collection of pixels, but I worried.”
“This life is real too. We’re communicating, aren’t we?”

Als die schüchterne und stille Anda in der Schule von einer Gastrednerin als Neumitglied eines Clans angeworben wird und in die Welt des fiktiven MMORPGs “Coarsegold Online” eintaucht, findet sie sich in einer für sie ungewohnten Rolle wieder: Schnell gewinnt sie durch ihr forsches Vorgehen und Geschick im Kampf an Popularität – und bleibt damit auch teamintern nicht lange unbemerkt.

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An sich noch ein Neuling, wird ihr prompt ein reizvolles Angebot von einer Mitspielerin unterbreitet: Im Austausch für ihre Dienste als Kriegerin bezahlt zu werden, und zwar nicht mit der spielinternen Währung, sondern mit barer Münze. Trotz anfänglicher Skepsis und fehlender Transparenz willigt Anda ein und findet sich bald in einer moralischen Zwickmühle wider, denn wie sich zeigt, besteht ihre Mission darin, Goldfarmer zu töten – im Auftrag der Konkurrenz. Als sie auf den Chinesen Raymond trifft, verschwimmen die Grenzen zwischen richtig und falsch, zwischen unbedachter Abneigung und Empathie schließlich vollends. Und Anda stellt fest, dass nicht alles so einfach ist, wie es scheint.

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Auf nur 175 Seiten thematisiert In Real Life kulturelle Differenzen, Adoleszenz und Kapitalismus mit narrativer Leichtigkeit, ohne dabei sorglos oder gar unreflektiert zu erscheinen. Cory Doctorow, der hauptberuflich als Journalist arbeitet, überträgt seine persönlichen Erfahrungen mit politischem Aktivismus in eine Geschichte, die durch ihre Universalität nicht nur Jugendliche anspricht, sondern all jene, die (online) spielen. Wie undeutlich die Unterschiede zwischen Spiel und Arbeit, wie drastisch hingegen ihre Auswirkungen sein können, wird durch die Begegnung zweier Avatare eindrucksvoll geschildert. Die hier und da ein wenig unausgereiften, stilistisch aber sehr passenden und ungeheuer atmosphärischen Illustrationen der Koautorin und Cartoonistin Jen Wang, erwecken Andas Heimatstadt Flagstaff ebenso überzeugend zum Leben wie die riesige Welt von “Coarsegold Online”, von der man wünschte, sie wäre tatsächlich begehbar. Und damit ein Teil der eigenen Lebenswirklichkeit.