Ein Destillat seiner selbst – Assassin’s Creed Chronicles: China
Viele guten Dinge kommen einmal im Jahr: Weihnachten, Ostern, Geburtstag, der Kater an Neujahr und die Siegesparade auf dem Roten Platz. Seit einigen Jahren ist es gute Sitte, dass einmal pro Jahr ein neuer Teil der Assassin’s-Creed-Reihe erscheint. Mal ein wenig besser, mal durchwachsen, stets mit ein paar neuen Elementen und doch immer mit der gleichen Grundformel. Seit 2014 ist Publisher Ubisoft dieser Rhythmus jedoch nicht mehr genug. Im vergangenen Jahr erschienen erstmals kurz hintereinander zwei Spiele der Reihe – eines für die alte und eines für die neue Konsolengeneration. Auch 2015 soll es bei einem neuen Teil nicht bleiben. Stattdessen verkürzt Ubisoft die Wartezeit auf den neuen Teil mit drei neuen Episoden, von denen jeweils eine in China, in Indien und in Russland spielt. Der erste der drei Teile trägt den Namen Assassin’s Creed Chronicles: China.
Als ich das Spiel zum ersten Mal startete, war ich voller Vorurteile. Ubisoft versucht auch noch aus der Zeit zwischen dem letzten DLC eines Spiels und dem nächsten Vollpreistitel herauszupressen, was irgendwie geht, so mein Eindruck. Die Kuh Assassin’s Creed wird gemolken, bis nur noch saurer Quark aus dem Euter kommt, dachte ich. Wie falsch ich doch lag. Assassin’s Creed Chronicles ist nicht nur der zweite Teil der Reihe, der nach Liberation mit Shao Jun eine Frau in der Hauptrolle hat, es ist auch äußerst kunstvoll gestaltet. Das gesamte Spiel sieht aus wie ein Aquarell, Blutflecken sind wie Farbklekse aus dem Malkasten, bei besonders schnellen Bewegungen verlaufen die Farben. Die Hintergründe sind bisweilen so schön, dass man den Blick vom Spielgeschehen abwenden möchte.
Spielerisch verzichtet Assassin’s Creed Chronicles: China auf sämtlichen Ballast, den die Reihe im Laufe der Zeit angesammelt hat. Das Spiel ist in Level unterteilt, in jedem Abschnitt gibt es eine Haupt- und eine Nebenmission, zudem ein bisschen optionalen Kram zum Sammeln. Eine frei begehbare Welt existiert genauso wenig wie sich ständig wiederholende Lückenfüller-Missionen. Die Protagonistin erobert keine Forts, baut keine Häuser aus und rennt auch nicht zu ominösen Händlern, um sich ihr kriegstaugliches Waffenarsenal aufrüsten zu lassen. Stattdessen gibt es Bewertungen für verschiedene Spielstile – wer sich lautlos an sämtlichen Wachen vorbeischleicht, bekommt dafür genauso eine Gold-Wertung wie derjenige, der die Gegner gekonnt ins Jenseits befördert. Negativpunkte gibt es lediglich für zuviel erregte Aufmerksamkeit und das Auslösen des Alarms. Am Ende wird so ein Punktestand generiert – je nachdem, wie hoch der ist, gibt es pro Mission das ein oder andere Upgrade.
In meinen Augen ist Assassin’s Creed Chronicles: China darüber hinaus der erste Teil der Reihe, bei dem der Spieler wirklich dazu angehalten wird, zu schleichen. Klar haben die Entwickler auch bei Unity schon das Kampfsystem verbessert und erschwert – mit dem Ergebnis, dass ich das Spiel mehr oder minder beendete, in dem ich wie ein Irrer Rauchgranaten durch die Gegend warf. Das geht hier nicht. Spätestens wenn zwei Gegner von verschiedenen Seiten auf die Protagonistin zustürmen, wird es ernst. Wer sich dann nicht schnell aus der Affäre zieht, stirbt. Um die Gegner zu bekämpfen, steht ein für Assassin’s Creed typisches Arsenal an Möglichkeiten zur Verfügung: Shao Jun kann Attentate aus der Luft oder aus Verstecken heraus verüben. Sie kann Gegner mit speziellen Lärmpfeilen ablenken oder durch Pfiffe anlocken.
Wer schon einmal ein 3D-Assassin’s-Creed gespielt hat, wird die Steuerung sofort wiedererkennen. Tatsächlich ist es den Entwicklern gelungen, das Bedienschema recht genau in eine 2D-Welt zu übertragen. Das bedeutet: Shao Jun steuert sich die meiste Zeit rasant, flink und präzise. Manchmal macht sie aber auch genau das Gegenteil dessen, was der Spieler gerade will und springt beispielsweise von einer Wand rückwärts mitten in eine Gegnerhorde anstatt weiter an ihr hochzuklettern. Allerdings sind derartige Grausamkeiten in meinem Fall bis zur Endsequenz lediglich drei bis vier Mal aufgetreten – zu verschmerzen also.
Assassin’s Creed Chronicles: China ist eine große Überraschung. Erwartet hatte ich, dass Ubisoft versucht, Mark of the Ninja zu kopieren und daran kläglich scheitert. Sicher scheint diese Inspirationsquelle auch an allen Ecken und Enden durch. Dennoch ist den Entwicklern ein erstaunlich eigenständiger Titel gelungen. So viel dessen, was die Reihe wirklich ausmacht, haben sie hier auf engstem Raum konzentriert und dabei gezeigt, dass es keine riesenhafte und trotzdem mit Icons überflutete Weltkarte braucht, um ein gutes Assassin’s Creed zu sein. Jetzt schon freue ich mich auf den nächsten Teil und hoffe, dass Ubisoft vielleicht auch bei den großen Spielen der Reihe ein wenig dazulernt: weniger Animus, weniger Dan-Brown-Gequatsche, weniger Begleitmissionen! Mehr kunstvolle Details, mehr Atmosphäre, mehr Spannung!